Charity and Poverty
Philantropie ist kein Ersatz für Sozialtransfers
„Charity“-Organisationen gibt es in England für allerlei wohltätige Zwecke. Viele von ihnen wären nicht nötig, wenn es hier einen stärkeren Sozialstaat gäbe. Es gibt keine Gerechtigkeit auf Spendenbasis.
23.1.22

St Paul's Cathedral bei Nacht
„I’m not a beggar.“ Der junge Mann schaut mich an. Er klingt verbindlich, so als würde er versprechen, mir nicht zur Last zu fallen. Gleichzeitig höre ich Trotz in seinem Ton. Er möchte zwar Geld, aber nicht für sich selbst. Würde ich stehenbleiben, würde er mir von einer Charity erzählen, einer wohltätigen Organisation, für die er sammelt. Davon gibt es viele tausend in England.
Menschen werben auf der Straße für Charities. Menschen gehen auch in Läden und spenden dort Geld und ihre Klamotten. Die Charity-Shops verkaufen dann alles günstig weiter und geben die Einnahmen an einen guten Zweck. Für Herzkranke, für Kinder, für Krebsforschung, für die Armen. Sie leisten einen Sozialtransfer und bieten eine einfache Möglichkeit, das eigene Lieblingsprojekt zu unterstützen.
Das ist die eine Lesart, man könnte sie die liberale nennen. Aber eigentlich nur, wenn man ein sehr beschränktes Verständnis von Freiheit hat. Es gibt auch eine andere Interpretation. Die Charity-Shops ersetzen ein System der Sozialtransfers und der Ressourcenallokation, das demokratisch kontrolliert ist. In anderen Ländern leistet der Sozialstaat die Unterstützung für die Armen, werden Steuern erhoben und damit beispielsweise Gesundheitsforschung finanziert.
Natürlich gibt es Steuern auch in England, aber eben weniger als in vielen anderen Ländern. Hier passiert eine Menge sozialer Transfers auf freiwilliger Basis, mit mäßigem Erfolg. Die Einkommens- und Vermögensungleichheit im Vereinigten Königreich ist enorm. Die Säuglingssterblichkeit ist höher als in den meisten Industriestaaten, trotz des immensen Reichtums der ehemaligen Weltmacht England. Das beliebte öffentliche Gesundheitssystem NHS (National Health Service) hat mit Knappheit von Krankenhausbetten und Personal zu kämpfen, Wartezeiten für Arzttermine sind lang. Der Staat könnte es sich zur Aufgabe machen, diese Probleme anzugehen. Er verzichtet aber darauf, den Sozialstaat durch höhere Steuern zu finanzieren, und verlässt sich darauf, dass soziale Probleme durch den wohltätigen Willen derjenigen gelöst werden, die es sich leisten können, etwas abzugeben.
Philantropie wird in Umverteilungsdebatten als Argument für die positiven gesellschaftlichen Effekte von Reichtum benutzt. So als ob Sozialleistungen unnötig wären, wenn man die Steuern so gering hält, dass die spendablen Reichen von selbst für Gerechtigkeit sorgen. Die Wirklichkeit hält diesen Erwartungen nicht stand. Im Gegenteil wären viele der wohltätigen Einrichtungen nicht nötig, wenn der Staat arme Menschen nicht im Stich lassen würde.
Im Herbst 2021 wurde von der konservativen Regierung unter Premierminister Boris Johnson die pandemiebedingte Erhöhung der Sozialleistungen um 20 Pfund pro Woche (circa 100 € im Monat) ersatzlos gestrichen. Deswegen hat sich sogar der Sonderberichterstatter der UNO für extreme Armut eingeschaltet. Das englische Sozialsystem ist so schwach, dass eine Kürzung der Leistungen als Menschenrechtsverletzung angesehen wird.
Diese Verachtung hat System. Gerechtigkeit kann nicht hergestellt werden, indem man hunderttausende Erwachsene und Kinder in Armut hält und darauf vertraut, dass ihre Lebensumstände durch Trickle-Down-Almosen verbessert werden. Freiwillige Umverteilung ist keine Umverteilung, sie ist nur ein Aufrechterhalten der gesellschaftlichen Machtverhältnisse.
Im Herz des Londoner Bankenviertels hängen Werbeplakate direkt nebeneinander, die die unterschiedlichen Lebenswelten auf den Punkt bringen. Auf der einen Seite: „Ein Kind in Ost-London muss bis zu 291 Tage auf medizinische Behandlung warten; bitte spende, damit es besser wird“. Gleich daneben: „Investiere jetzt in den exklusiven Vorverkauf der neuesten Blockchain-Kryptowährung“. Hier in den Hochhäusern von Canary Wharf werden Unsummen von Geld verdient. Dann kann man die Hälfte in FinTech-Startups investieren, um noch mehr Geld zu machen, und die andere Hälfte benutzen, um die Wartezeit armer Kinder für einen Arzttermin von 291 Tagen auf vielleicht 91 Tage zu reduzieren. So geht Gutes tun.
Dieses System mutet krank an, die Werbetafeln und Schilder in der Stadt zeigen das selbst. Im Londoner Norden, an der Seven Sisters Road auf Höhe der Unterführung unter den Bahngleisen zur Finsbury Park Station, wo sich jeden Tag zur Rush Hour zweimal der Verkehr staut und die Luft nach giftigen Abgasen riecht, hängt ein großes Banner: „Ertrinkst Du in Deinen Problemen? Wir helfen.“ Die Charity, die hier wirbt, die „Universal Church of the Kingdom of God“ des brasilianischen Milliardärs und Bolsonaro-Unterstützers Edir Macedo, ist für Korruption und Ausbeutung ihrer Mitglieder bekannt. Aber eigentlich hätte es diesen Hinweis nicht gebraucht, damit es wirkt, als ob hier etwas falsch läuft.
Auf der Lambeth Bridge im Herzen Londons, mit Blick auf die Houses of Parliament und den Big Ben, das London Eye und die Hochhäuser von Vauxhall, ist eine metallene Plakette der Samariter an den Stein geschraubt: „Rede mit uns, wir hören Dir zu. Was auch immer Du durchmachst, Du bist nicht allein.“ Eine kostenlose Hotline verspricht Hilfe. Zusammen mit den Stacheln auf der Brüstung scheint die ganze Szene zu rufen: Spring nicht von dieser Brücke, nicht hier, direkt im Regierungsviertel.
Wenn es gar nicht mehr geht, ist jemand da, der zuhört. Besser als nichts, oder? Aber warum wird immer erst zugehört, wenn die Verzweiflung überhand nimmt? Und warum kümmern sich um diese Dinge nur die Charities und nicht die Regierung?
Reiche Menschen können entscheiden, für welche sozialen Projekte Geld da ist und für welche nicht. Gleichzeitig werden ärmere Schichten mit der Hoffnung abgespeist, dass vielleicht bald jemand spendet. Nur nicht infrage stellen, warum all das nötig ist. Der demokratischere Weg wäre: Höhere Steuern für Unternehmen und Kapital, stärkerer Sozialstaat, höherer Mindestlohn, mehr Chancengleichheit. Wenn kommerzielle Werbetafeln von Charities gemietet werden, die Menschen Hilfe anbieten, die in ihren Problemen versinken, dann ist mit dem Wirtschaftssystem etwas nicht in Ordnung.