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Protest is back

Wut und Solidarität in 2022

Die englische Gewerkschaftsbewegung steht derzeit zwischen historischem Empowerment und unerhörter Repression. Die Kämpfe für Arbeitnehmerrechte und gegen den Klimawandel sind auf radikalen Protest angewiesen. Auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren verleiht mehr Kraft als es kostet.

11.6.22

Protest is back

Streik der Great Ormond Street Hospital (GOSH) Security Guards, 2022 in London. Knut Penning

Ein paar Wochen, bevor die englische Verkehrsgewerkschaft RMT den „größten Bahnstreik in der jüngeren Geschichte“ ankündigt, versammeln sich einige Dutzend Menschen am Queen Square nahe des zentralen Londoner Knotenpunkts King’s Cross. Sie sind ebenfalls zum Streiken gekommen. Aber sie sind nicht von der Bahn und ihre Versammlung wird auch keine zahlenmäßigen Rekorde aufstellen.


Die Menschen, die hier für ihre Rechte als Arbeitnehmer kämpfen, gehören zum Great Ormond Street Hospital (GOSH) um die Ecke, es sind die Security Guards der Klinik. Man kennt sich, begrüßt einander herzlich und plauscht, während langsam die Kollegen eintreffen, es wird gelacht. Aus dicken Lautsprechern läuft Reggae und Cumbia, zwei Frauen tanzen vor einer Statue, der sie Fahnen zwischen die Finger gesteckt haben. Jemand verteilt frische Muffins an alle, die sich nicht wehren.


GOSH Security Guards – Kampf um Anerkennung


Aber die Protestschilder, die die Streikenden mitgebracht haben, zeigen, dass es hier nicht nur um Spaß geht. „Equality, Dignity and Respect“ fordern sie, oder „Sick Pay Now“. Das Sicherheitspersonal ist die einzige Sparte der Beschäftigten am GOSH, die von Outsourcing betroffen ist und deshalb nicht beim staatlichen Gesundheitsdienst NHS angestellt. Die Folgen sind beträchtlich: Bei Krankengeld, Stundenlohn, Mutterschutz, Rentenbeiträgen, Überstundenvergütung und Urlaubsansprüchen sind sie gegenüber ihren Kolleginnen innerhalb des NHS schlechtergestellt.


Sechs Wochen dauert der Streik der Security Guards zu diesem Zeitpunkt schon an. Ihre Ungeduld und die Ernsthaftigkeit ihrer Forderungen müssen sie mit einem ziemlich langem Atem untermauern. Doch es gibt Beispiele, die ihnen Mut machen, die zeigen, dass sich die Mühe lohnen kann.


Erst wenige Tage zuvor hat das Reinigungspersonal am GOSH unter Androhung von Streiks erstritten, selbst endlich In-House-Verträge beim NHS zu bekommen, und damit Gleichberechtigung mit dem Großteil des restlichen Personals erreicht. Schon 2017 hatten die Reinigungskräfte an der renommierten London School of Economics and Political Science (LSE) erfolgreich für die Aufnahme in die dortige In-House-Arbeitnehmerschaft gekämpft.


UVW – eine junge Gewerkschaft wehrt sich


All diese Fälle verbindet ihre Gewerkschaft, die United Voices of the World (UVW). Es ist eine kleine und noch junge Vereinigung, 2014 gegründet und vor allem in migrantischen Communities in London verwurzelt. Seit Jahren unterstützt UVW Menschen im Niedriglohn-Dienstleistungssektor und organisiert gegen Outsourcing und diskriminierende Arbeitsbedingungen.


UVW geht dabei offensiver vor als viele etabliertere Gewerkschaften. „Wir sagen den Arbeitenden, sie müssen aktiv werden, mit ernsthaften und dauerhaften Aktionen, bis sie gewinnen. Unsere Forderungen sind nicht verhandelbar. Wir wollen alles, was wir verlangen“, sagt Petros Elia, Generalsekretär der Gewerkschaft.


Mit dieser Strategie ist UVW unter anderem deshalb erfolgreich, weil die Zustände, gegen die sie gemeinsam mit den Arbeitnehmenden kämpft, so empörend sind. Im April 2020 starb Emanuel Gomes, ein Mitglied der Gewerkschaft, nur wenige Stunden nach dem Ende seiner Nachtschicht als Putzkraft im englischen Justizministerium an Covid-19. Er war trotz schwerer Symptome tagelang zur Arbeit gegangen, weil er bei einer Krankmeldung nur die gesetzlich vorgeschriebene Lohnfortzahlung von 99,35 Pfund pro Woche bekommen hätte, die nicht zum Leben reicht. Bei solchen Arbeitsbedingungen ist es verständlich, Forderungen aufzustellen, die nicht Basis für Kompromisse sind, sondern Untergrenze von akzeptabel.


Selbstermächtigung gegen entwürdigende Maßnahmen


Die Strategie von UVW umfasst aber neben ihrer Kompromisslosigkeit noch ein weiteres zentrales Element: Empowerment. Die Streikenden erleben ein Gefühl von Gemeinschaft, indem sie zusammen unmittelbar aktiv werden, sich vernetzen und ihre Stimme erheben, und diese Gemeinschaft spürt man deutlich auf ihrer Demonstration.


Die Gespräche sind heiter, die Sicherheitsleute nehmen sich nicht bloß als marginalisierte Randfiguren wahr, sondern als Gruppe, die einen wertvollen Beitrag zum Gelingen der staatlichen Gesundheitsversorgung leistet und dafür Anerkennung verlangt. Beim ersten Redebeitrag der Demo, als der Generalsekretär Petros die einzelnen Security Guards namentlich vorstellt, tanzen sie nacheinander unter Applaus und Gejohle mitten in den Kreis der Anwesenden.


Diese positive Einstellung schützt ein Stück weit davor, bei den zynischen Reaktionen der Gegenseite zu verzweifeln. Wenige Tage, nachdem das Krankenhaus das Reinigungspersonal direkt angestellt und damit dessen Forderungen als legitim anerkannt hat, stellt es sich jetzt bei den Sicherheitskräften erneut stur und hofft anscheinend auf den schwächenden „teile und herrsche“-Effekt einer Parzellierung der Streikenden.


Anstatt den moderaten Forderungen stattzugeben, bezahlt es lieber teure Anwälte, die vor Gericht Verfügungen gegen die Demonstrierenden erwirken. Und die haben es in sich. Im Februar 2022 verbot der High Court of Justice den Security Guards plötzlich unter Haftandrohung, innerhalb von 200 Metern rund um die Klinik „Fahnen zu schwenken, Musik zu spielen, zu rufen, schnelle oder dramatische Bewegungen oder laute Geräusche zu machen“ oder „schwungvoll zu tanzen“.


In einem offenen Brief rügten über 180 Wissenschaftlerinnen die „race and gender equality implications“ solcher Verfügungen und generell der Outsourcing-Politik vieler Institutionen gegenüber marginalisierten, vor allem nicht-weißen Teilen ihrer Arbeiterschaft. Zwar milderte das Gericht die Anordnung eine Woche später teilweise ab, aber schon der zwischenzeitliche Erfolg der Arbeitgeberseite hatte ein deutliches Signal gesetzt.


Autoritäre Pläne der Johnson-Regierung


Das harte Durchgreifen gegen Streikende sorgt für Beunruhigung, gerade in Zeiten von Versuchen der konservativen britischen Regierung, der Polizei mithilfe eines neuen Gesetzes mehr repressive Mittel an die Hand zu geben.


Vorgeblich mit dem Ziel, Proteste wie die von Black Lives Matter oder Extinction Rebellion in Schach zu halten, wollte das Johnson-Kabinett etliche neue Regeln einführen: Unter anderem sollten Protestierende ohne Verdachtsmoment angehalten und durchsucht werden sowie nach etwaigen Verurteilungen wegen Störungen der öffentlichen Ordnung gerichtlich von bestimmten Protesten ausgeschlossen werden können. Außerdem sollte die Polizei gegen Proteste vorgehen dürfen, die „zu viel Lärm“ verursachen.


Mit all diesen und weiteren Vorhaben scheiterte die Regierung im House of Lords. Eine überarbeitete Version des Gesetzes trat im April 2022 dennoch in Kraft. Und vor den für Ende Juni angekündigten Bahnstreiks gibt es innerhalb der Regierung aktuell lebhafte Diskussionen darüber, ob man nicht das Streikrecht gesetzlich beschneiden sollte, unter heftigem Widerspruch der Gewerkschaften.


Internationale Repressionen gegen Arbeitnehmende


Dabei wird eine starke Arbeitnehmendenvertretung derzeit dringend gebraucht. Erst im März hatte „P&O Ferries“, ein Betreiber von Fähren im Ärmelkanal im Eigentum der saudischen Herrscherfamilie, 800 britischen Arbeitskräften illegal fristlos über Zoom gekündigt und sie durch outgesourcte Arbeiter ersetzt, deren Stundenlohn nach Gewerkschaftsangaben nur 1,80 Pfund betrug. Zwar hat die Regierung nach lautem Protest seitdem ein Gesetz auf den Weg gebracht, um einen Mindestlohn für Seeleute sicherzustellen, dessen Durchsetzbarkeit wird aber von Gewerksschaftsseite in Zweifel gezogen.


Solche Nachrichten sind keine Einzelfälle. Auch in den USA zeigen Berichte über Union Busting – Behinderung von Gewerkschaftsarbeit – zum Beispiel bei Starbucks oder Amazon, dass Arbeitnehmerrechte unter großem Druck stehen. Aber es gibt langsam auch wieder Erfolgsgeschichten: In den USA, wo in New York vor kurzem die erste Gewerkschaft von Amazon-Angestellten gegründet wurde, oder in England mit den Erfolgen von UVW.


Nach zwei Jahren Pandemie, in denen persönlicher Kontakt als Basis für Solidarität schmerzlich gefehlt hat, und inmitten von massiver Inflation, sind die Bedingungen für Repression gegen Arbeitnehmende einerseits so gut wie seit langem nicht. Auf der anderen Seite hat die Wut vieler Menschen über ihre Arbeitsbedingungen, über das schnelle Abklingen der Lobgesänge auf „essential workers“ und „systemrelevante Berufe“ sich vielleicht tiefer eingebrannt als auf den ersten Blick erkennbar.


Ohne Druck liefert die Politik nicht


Wenn die Erinnerung an die Versprechungen aus den Hochzeiten der Pandemie wach bleibt und keiner Abstumpfung über die Berichte über Rekordgewinne von Konzernen weicht, könnten die nächsten Jahre eine starke Politisierung bringen.

Denn wer in Pflege, Logistik, Einzelhandel, Bildung und Gesundheit arbeitet, ist systemrelevant, und die gegenwärtigen Arbeitsbedingungen spiegeln diesen Fakt nicht wider. Genauso wichtig: Alle Menschen haben ein Recht auf demokratische Mitbestimmung und menschenwürdige Lebensbedingungen.


An dieser Stelle überschneiden sich Arbeitnehmerstreiks mit Klimaprotesten. Und hier zeigt sich auch, dass auch in Deutschland nicht alles in Ordnung ist.


Bei den klassischen Gewerkschaftsdemos am 1. Mai zeigte sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) noch kämpferisch und stolz auf seinen Plan zur Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde, die ab Oktober in Kraft tritt. Es war aber bei allem Stolz auf dieses Ergebnis keine Rede davon, dass der Kanzler den Mindestlohn in Anbetracht der für dieses Jahr erwarteten Inflation gleich wieder erhöhen müsste, um sein Ziel nicht zu verfehlen.


Und als auf einer Kirchentagung später im Mai junge Klimademonstrantinnen die Bühne stürmen wollten, konterte Scholz mit einem vagen Nazizeit-Vergleich. Das ist nicht genug. Das gegenwärtige Tempo bei der Bekämpfung des Klimawandels reicht bei weitem nicht aus, und wer mit der FDP eine Bundesregierung eingeht, braucht sich keine Illusionen über die Fortschritte zum grundlegenden Systemwandel zu machen, die notwendig sind. Sich als den klügsten und besonnensten Akteur darzustellen, weil man derjenige ist, der die überfälligen Kompromisse schließt, ist billig.


Auf die Straße – es lohnt sich


Der Druck, der solche Kompromisse erst erzwingt, kommt von unten, von der Straße. Er kommt von Streiks mit wenigen Dutzend Teilnehmenden, für die ein paar Tage mehr Urlaub im Jahr oder ausreichendes Krankengeld erhebliche Unterschiede ausmachen. Er entsteht auch auf Veranstaltungen, bei denen jede einzelne Person, die sich kurz dazustellt und interessiert zuhört, bemerkbar ist.


Um dieses Interesse zu wecken, ist es wichtig, anderen Menschen physisch zu begegnen. Zu sehen, welche Klamotten sie zur Arbeit getragen haben, welche Stimmung ihre Gesichtsausdrücke verraten, dass sie vielleicht ein Buch lesen oder von einem Thema sprechen, das man nicht erwartet hätte. All das macht andere Menschen für uns aus anonymen Fremden zu Personen, zu Individuen, für die es sich mitzukämpfen lohnt.


Nutzen wir daher die Gelegenheiten, die wir langsam endlich wieder haben. Fahren wir im ÖPNV, genießen wir, wieder Gesichter sehen zu können, und solidarisieren wir uns mit anderen für ihre Anliegen. Es geht uns alle etwas an, denn wie wir hoffentlich noch erinnern, bewohnen wir alle dieselbe Erde, und schlecht bezahlte Leute sind erstaunlich oft systemrelevant.


Wir müssen wieder auf die Straße, Luisa Neubauer sagt das in letzter Zeit häufiger. Sie hat Recht.

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