Zwischen Rat Race und Avantgarde
Freiheit und Kapitalismus in London
London pflegt das Image eines Orts der unbegrenzten Selbstverwirklichung. Gleichzeitig übt die Stadt enorme wirtschaftliche Zwänge aus.
14.1.22

Blick über die Themse nach Osten Richtung Tower Bridge
Wenn man von London berichtet, sind Klischees schwer zu umschiffen. Aus meiner Sicht haben sich einige bestätigt: Die Größe und Geschwindigkeit von London ist beeindruckend. Es ist voller, lauter und auffallend bunt, selbst im Vergleich zu deutschen Millionenstädten wie Hamburg und sogar Berlin. Menschen aus aller Welt kommen hierher, aus ganz verschiedenen Gründen. Sie machen Urlaub, suchen Arbeit oder Schutz vor Verfolgung, oder jagen dem Erfolg und ihren Träumen nach. Für die Suche nach Chancen und einem besseren Leben steht London, und das prägt die Atmosphäre der Stadt.
Hier wird die Freiheit großgeschrieben, man selbst sein zu dürfen. Immer wieder erinnern Schilder in der Tube daran, dass man lieben darf, wen und wie man möchte, und dass Hate Crime nicht geduldet wird. Die Wirkung dieser Haltung ist nicht zu unterschätzen. Londons Toleranz gegenüber unterschiedlichsten Lebenswegen zieht Menschen an und sorgt für eine Mischung von Einflüssen wie kaum irgendwo sonst.
Das Vielfältige und Verrückte an der Stadt macht sie beliebt. Das kann sehr aufregend und spannend sein, manchmal auch anstrengend. Vor allem heißt beliebt aber auch teuer. Eine Bratwurst auf dem Weihnachtsmarkt kostet umgerechnet mehr als neun Euro, ein halber Liter Bier im Pub meist über sechs. Wenn die Stadt also ein Ort für alle Menschen sein will, dann heißt das nicht, dass das Leben hier für alle leicht ist. London erfüllt Dir jeden Wunsch, wenn Du dafür bezahlen kannst.
Geld ist zum Dabeisein eine Notwendigkeit, und Zeit ist Geld. An einem so reichen Ort wie diesem sind die Dienstleistungen hochspezialisiert, und aus der Spezialisierung ergibt sich eine klare Hierarchie. Viele Jobs dienen dazu, der nächst-zahlungskräftigeren Gruppe das Leben so komfortabel wie möglich zu machen. Junge Menschen auf E-Bikes fahren Lebensmittel durch die Stadt. Mit dicken Ofenhandschuhen halten sie sich die Hände warm. In den Büros und Wohnungen sparen sich andere so das Einkaufengehen, während sie selbst Produkte vermarkten, Schriftsätze übersetzen, Werbung designen, Angestellte schulen. Vermögensverwalter und Unternehmer können auf diese Dienstleistungen zurückgreifen, um besonders effizient Geld für ihre Investoren zu verdienen.
Die Werbetafeln in der Tube machen deutlich, worum es beim Leben in London geht. Im Wesentlichen dominieren wenige Arten von Dienstleistungen die Reklameflächen: ein paar Lieferdienste, unzählige Theater und Musicals, überall Finanzdienstleistungen. Lass Dir alles liefern – von mehreren Start-Ups, die den Markt für Lebensmittel-Delivery erobern wollen, bis zur mobilen Massage – um härter arbeiten zu können, und dann investier Dein Geld, und Du kannst bald bei den Großen mitspielen. Oder belohn Dich mit Kultur. Work hard, play hard, Brot und Spiele.
In London kann man gut reich werden, scheint es. Aber natürlich ist klar, dass nicht alle in diesem System gewinnen können. Der Mindestlohn in England liegt bei £ 8,91 pro Stunde, das sind unter elf Euro. Für ein Leben in London reicht das nicht aus. Hier gibt es zwar eine Initiative, der sich einige Arbeitgeber angeschlossen haben, und die im Stadtgebiet höhere Löhne vorschreiben will, den London Living Wage. Auch dieser erhöhte Mindestlohn liegt aber nur bei £ 11,05, wenig mehr als 13 Euro. Und den Living Wage zahlen bei Weitem nicht alle.
Eine Wohnung im Stadtkern können sich die meisten Leute so nicht leisten. Sie haben mehrere Jobs oder wohnen weiter draußen. Während den einen also alles nach Hause gebracht wird, pendeln die anderen aus den Vororten zur Arbeit, um in ihren Jobs anderen Zeit zu sparen und Komfort zu bringen. Es findet ein Zeittransfer zwischen den Schichten statt. Das ist unmittelbare Lebensqualität, die den weniger Privilegierten hier jeden Tag genommen wird. London ist eine gehetzte Stadt, Zeit und Ruhe sind kostbare Ressourcen.
Wie bewusst den Menschen dieses System ist, und ob sie es begrüßen, akzeptieren oder nur ertragen, lässt sich nicht leicht feststellen. Gelegentlich bricht die Absurdität deutlich hervor. Im Castle, einem großen Kletterzentrum im Norden Londons, hängt ein Aushang: Eine Freizeitgruppe sucht Gleichgesinnte, um gemeinsam Robert Kiyosakis Spiel „Cashflow“ zu spielen. Das scheint eine Art Monopoly zu sein, bei dem man Geld gewinnbringend anlegen muss. Sie treffen sich mehrmals im Monat zum Spielen, schreiben sie, und dass ein harter Kern der Gruppe auch danach noch zusammensitzt, um sich über Real Life-Investmentstrategien auszutauschen. Denn sie alle eine der Traum, eines Tages einmal das „Rat Race“, den täglichen Kampf im Hamsterrad, hinter sich zu lassen. Es braucht eine Menge Zynismus, sich im selben Satz über das harte und stumpfe Leben im Kapitalismus zu beschweren und als Ausweg über die richtige Investmentstrategie zu brainstormen.
Ungefähr so ehrlich scheint auch Spielerfinder Kiyosaki zu sein. Der verkauft nebenbei auch Bücher, in denen er erklärt, wie man reich wird (auf die Tipps von reichen Leuten hören), zum Beispiel hat er mehrere Ratgeber zusammen mit Donald Trump veröffentlicht. Ansonsten ist er vor allem für sein Franchise von überteuerten Finanz-Selbsthilfeseminaren bekannt. Solche Leute werden hier verehrt, zwischen LGBT-Klettergruppen und Yogakursen.
Wenn man in einer kompetitiven Welt wie London erfolgreich sein will, muss man von Anfang an vorne mit dabei sein. Den Werbetafeln von Schulen und Kitas merkt man an, dass sie den gesellschaftlichen Konkurrenzkampf schon internalisiert haben. Die „besten Anfänge“ sollen sichergestellt, „Potenzial maximiert“ werden. Manchmal treibt dieser Optimierungswahn Blüten wie bei einer Kindertagesstätte in Stoke Newington im Norden Londons, deren Website einen staatlichen Prüfungsbericht stolz damit zitiert, die Kinder seien dort „extrem glücklich“.
Wer in London ankommt, wird schnell verführt, dieses Modell für alternativlos zu halten. Jeder hat hier das Recht, alles zu hinterfragen und anders zu machen. Ob die Leute es auch tun, ist eine andere Sache. Die blinkenden Lichter und die Geschäftigkeit dieser Stadt sind beeindruckend. In der Tat wird hier ein Lifestyle gelebt, der immer erst etwas später woanders auf der Welt zu finden sein wird. Es wirkt, als würden die Menschen sich diese kulturelle Selbstverwirklichung noch mehr als sonstwo bereitwillig mit besonderer Selbstaufgabe auf wirtschaftlicher Ebene erkaufen.
Wenn ich am Bahnhof King’s Cross in die Piccadilly Line steige, verfalle ich leicht der Illusion, dass es schon ein Erfolg ist, es überhaupt hierher geschafft zu haben. Und fühle mich stolz wie ein Teil des großen Ganzen, obwohl der größte Teil eigentlich nur dazu dient, die Stadt für einige Wenige zu dem zu machen, was sie vorgibt, für alle zu sein – ein Ort der unbegrenzten Möglichkeiten.