top of page

Zoë Readhead über die Freie Schule Summerhill

Die Summerhill-Schule im Südosten Englands, 1921 von Alexander S. Neill gegründet, ist seit mittlerweile mehr als einhundert Jahren Vorreiterin in Sachen Freie und Demokratische Bildung. Im Unterricht herrscht dort keine Anwesenheitspflicht, einmal wöchentlich findet eine Schulversammlung statt, auf der basisdemokratisch über Schulregeln abgestimmt und über Konflikte beraten wird. Zoë Readhead, Tochter von A.S. Neill, ist in Summerhill Schulleiterin. Im Interview haben wir darüber gesprochen, welche bildungspolitischen Reformen sie sich wünscht, wie gesunder Medienkonsum an der Schule aussehen kann und was den besonderen Geist von Summerhill ausmacht.


Das Interview gibt es auch auf Englisch sowie als gekürztes Video.

„Als könnten sie in deine Seele gucken“

25.8.22

von

Sprechende Veranstaltung

Herzlichen Glückwunsch zum hundertjährigen Bestehen von Summerhill! Was liegt an der Schule gerade an?


Wir hatten letztes Jahr unseren hundertsten Geburtstag, wir hatten alles vorbereitet und mussten dann unsere Feierlichkeiten absagen. Also holen wir das dieses Jahr nach, demnächst findet ein Treffen aus Ehemaligen, Mitarbeitenden und Eltern statt, die sich der Schule verbunden fühlen. Außerdem haben wir das Summerhill Festival of Childhood, was ein bisschen wie ein Musikfestival sein wird. Leute aus aller Welt werden kommen und Reden halten und einige der internationalen Vereinigungen aus dem Bereich Demokratische Bildung werden ihre Jahrestreffen dort veranstalten. Das wird sehr spannend!


Networken Sie regelmäßig mit Gruppen wie IDEC (International Democratic Education Conference) und EUDEC (European Democratic Education Community)?


Es ist schwierig, bei allem dabeizusein. Aber mein Sohn Henry ist sehr an Networking interessiert. Er hat ein Unternehmen gegründet, das Summerhill CIC heißt. Das ist eine Non-Profit-Organisation, um Universitäten und anderen Institutionen zu helfen, Kurse anzubieten, die sich mit solchen Bildungskonzepten beschäftigen.


Ich habe vor einiger Zeit eine Freie Schule in Deutschland besucht, deren Konzept in einem Punkt deutlich von dem von Summerhill abwich, und zwar in der Art, wie dort das Lernen organisiert wurde. In Summerhill gibt es Unterrichtsstunden, aber sie sind nicht verpflichtend. Bei dieser anderen Freien Schule war man der Meinung, dass je mehr wir Kinder beeinflussen, indem wir zum Beispiel bestimmte Unterrichtsstunden anbieten, wir desto mehr ihre freie Selbstentfaltung steuern. Deshalb waren sie der Meinung, man sollte dabei sehr zurückhaltend sein und gar keinen Stundenplan anbieten, weil das eine zu große Einflussnahme darstellen würde.


Mir ist das viel zu puristisch. Wir leben in einer echten Welt, die Kinder werden Qualifikationen brauchen. Wenn sie im Vereinigten Königreich zur Uni gehen wollen, müssen sie dafür bestimmte Examina ablegen, warum sollten wir also so tun, als bräuchte man überhaupt keinen Unterricht. Wir hatten immer Unterrichtsstunden, und bei uns funktioniert das gut, die Kinder sind sehr glücklich damit. Gerade wenn neue Schülerinnen zu uns kommen, ist es für die ganz toll zu sehen, dass es da eine Stunde gibt, zu der sie nicht hingehen müssen. Ich habe eine Unterrichtsstunde auf meinem Stundenplan und ich gehe einfach nicht hin, hahaha, so ungefähr. Wenn man in die Klassenräume reinschaut, besonders bei den jüngeren Schülerinnen, sieht man oft leere Räume und stattdessen viele Kinder, die draußen in der Sonne spielen. Deshalb hatte ich nie den Eindruck, dass das einen großen Druck ausübt. Die Vorstellung, dass wir überhaupt keinen Einfluss ausüben dürfen, ist mir persönlich einfach ein bisschen zu puristisch. In Summerhill sind wir ziemlich bodenständig und pragmatisch. Wir machen einfach unseren Job.


Konnten Sie das Schulleben während der Covid-Zeit normal aufrechterhalten?


Wir waren für zwei Terms online. In dieser Zeit haben wir Discord benutzt. Das ist eine Art Online-Umgebung, den unsere Informatik-Lehrerin für uns eingerichtet hat. Es gab natürlich unterschiedliche Klassenräume, in die man gehen konnte, aber man konnte sich auch in sozialen Räumen treffen und dort zusammen abhängen. Es gab immernoch eine wöchentliche Schulversammlung. Wir hatten natürlich nicht wirklich was zu besprechen, aber es gab eine Versammlung, damit wir uns alle mal sehen konnten.


Laufen die Kinder in Summerhill auch in Leiston (der nächsten Ortschaft) rum und erleben dort etwas oder finden sie alles, was sie wollen, auf dem Schulgelände?


Sie gehen manchmal in die Stadt zum Einkaufen oder zum Skatepark, aber meistens bleiben sie in der Schule. In Summerhill lernen die Kinder die ganze Zeit, wir machen kein großes Ding daraus. Wenn sie im Unterricht sind, werden sie nach einem Lehrplan unterrichtet, aber das alltägliche Lernen wird nicht protokolliert oder irgendwie überwacht. Wir erkennen einfach an, dass es das wichtigste ist, dass die Kinder einfach ihr Leben leben können. Zu lernen, miteinander zu leben, zu verhandeln, zu kommunizieren und miteinander auszukommen, ist wahrscheinlich das mächtigste Werkzeug, was Kinder in Summerhill mitbekommen. Und das lernen sie hier, an der Schule.


Eine Sache, die mich sehr interessiert, ist der Gebrauch von digitalen Geräten und sozialen Medien. Es ist eine wunderbare Sache, wenn Kinder aktiv ihre eigenen Interessen erkunden und verfolgen können, und wenn es nichts gibt, was sie davon abhält. Mein Eindruck ist, dass Smartphones und soziale Medien aber unser Verhalten relativ stark steuern, dass sie Kinder davon abhalten können, das Handy wegzulegen und sich mit etwas anderem zu beschäftigen. An der anderen Freien Schule, an der ich war, wurde Medienkonsum kaum reguliert. Ihr Ansatz beruhte auf zwei Argumenten. Das eine war: So ist eben unsere Welt, es ergibt auch keinen Sinn, die Kinder von Handies fernzuhalten und wenn sie dann die Schule verlassen, wissen sie nicht, wie man damit umgeht und werden handysüchtig. Und das andere Argument war, dass alle Dinge irgendwann langweilig werden, die Kinder dann die Handies weglegen und sich dann mit ihren wirklichen Motivationen und Interessen beschäftigen. Wie ist Ihre Haltung zu diesem Thema und welche Regeln gelten in Summerhill gerade?


Wir haben Regeln in der Schule, die bestimmen, wann man digitale Geräte benutzen kann und wann nicht. Bis vier Uhr nachmittags sind die Geräte verboten, außer für den Unterricht oder Recherchen oder wenn Leute in der Versammlung fragen, weil sie zum Beispiel damit Kunst machen wollen. Aber man darf sie nicht für soziale Medien benutzen oder wenn man einfach nur einen Film gucken will oder solche Sachen. Später darf man die Geräte benutzen, aber nur bis eine halbe Stunde vor dem ins Bett gehen bei den jüngeren Kindern. Und nachts sind sie auch komplett verboten. Das gilt auch für die Erwachsenen. Sie brauchen eine besondere Genehmigung, wenn sie sie für etwas anderes benutzen wollen als für unsere Kommunikation unter den Mitarbeitenden, die selbstverständlich erlaubt ist. Das funktioniert richtig gut. Manchmal will jemand die Regeln ändern und die Geräte immer erlauben, der sagt, wenn wir sie immer benutzen dürften, würden sie uns irgendwann langweilig werden. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. Was das Internet angeht, müssen wir uns bewusst sein, dass hinter all den Spielen und sozialen Netzwerken hunderttausende Leute stecken, die hunderttausende Dollar bezahlt bekommen, damit sie Umgebungen schaffen, die dich ködern. Sie locken dich an, sodass du sie immer wieder benutzt und immer weiter vor ihnen sitzenbleibst. Wir müssen anerkennen, dass man Kinder oder Jugendliche dieser extrem mächtige Millionenindustrie aussetzt, die ihre Produkte so designt, dass sie einen anziehen und an sich binden. Dagegen hat kein Kind eine Chance. Natürlich können sie irgendwann eine Balance finden und sich für andere Dinge interessieren, aber ich glaube, sie brauchen dabei Unterstützung. Wir sind der Meinung, dass Kinder spielen und Kinder sein können sollten. Natürlich ist das Internet wichtig. Und natürlich sind die Spiele, die die Kinder spielen, wichtig, und ihre Interaktion dabei kann ganz toll sein, wir wollen das gar nicht schlechtmachen. Wir glauben einfach, das hat alles seinen Platz, aber nicht den ganzen Tag.


Wie kam das zustande, gab es eine Phase, in der die Bildschirme zuviel genutzt wurden und dann sind einige von den Kindern quasi zur Besinnung gekommen?


Die Regeln wurden mit der Zeit immer strenger. Wir sind eine Gemeinschaft und es ist sehr wichtig, dass es diese Gemeinschaft gibt. Und wenn einzelne Leute immer online sind, dann sind sie nicht mehr Teil dieser Gemeinschaft, und die Gemeinschaft fängt an, auseinanderzufallen. Eine der Tragödien am Internet ist, dass sich kein Kind jemals mehr langweilen muss. Ich finde das entsetzlich. Ich finde es gut, wenn ein Kind den Tag über, wenn es nichts zu tun hat, sich nicht einfach vor sein Handy setzen kann, sondern es muss tatsächlich aufstehen, rausgehen, Leute treffen und etwas finden, womit es sich beschäftigen kann.


Gibt es also eine Entwicklung hin zu immer stärkerer Medienregulierung in Summerhill?


Ich glaube, es wird wohl im Wesentlichen so bleiben wie jetzt. Es ist schwierig, den Umgang mit persönlicher Freiheit zu erlernen. In Summerhill ist persönliche Freiheit sehr wichtig, und wir haben eine klare Trennung zwischen „Freedom“, was unsere persönliche Freiheit meint, und „Licence“, was Dinge meint, die in die Freiheit anderer Leute eingreifen. Für Kinder ist es ziemlich schwierig, diese Sachen auseinanderhalten. Menschen meinen oft, ihre Freiheit bedeutet, sich genau so verhalten zu können, wie sie möchten. Und gerade in modernen Familien lassen Eltern oft zu, dass ihre Kinder sich exakt so benehmen, wie sie möchten, und dann kommen sie zur Schule und denken, sie können sich alles erlauben. Was natürlich nicht geht, so kann man sein Leben nicht leben, nirgendwo. Ich glaube, das ist eine der Schwierigkeiten in unserer Gesellschaft heutzutage. Zu viele Leute denken, sie können alles tun, was sie wollen, ohne dabei über die Bedürfnisse anderer Menschen nachzudenken.


Haben Sie den Eindruck, dass Kinder in Summerhill eine ganz andere Haltung zur Nutzung digitaler Medien entwickeln als andere Kinder?


Schwer zu sagen, aber unsere Kinder gehen damit sehr verantwortungsbewusst um, sie sind sich der ganzen Gemeinschafts-Thematik sehr bewusst. Die älteren Kinder wissen genau um den Wert der sozialen Interaktion und der Gemeinschaft an der Schule. Wenn Kinder noch klein sind, haben sie kein Gefühl für soziale Verantwortung, sie interessieren sich nicht dafür, was andere Leute denken oder fühlen. Sie tun es vielleicht ein bisschen, aber nicht besonders doll. Wenn sie älter werden, sieht man, zumindest ist das in Summerhill der Fall, dass sie sich ihrer sozialen Rolle mehr und mehr bewusst werden, dass es nicht nur um sie selbst geht, sondern um alle und um die Gemeinschaft als Ganze, darum, was für uns alle am besten ist. Wenn dann hemand sagt, wir sollten alle den ganzen Tag Computer spielen dürfen, werden die meisten von den älteren Kindern entgegnen, dass das ziemlich blöd wäre, weil es schlecht für uns als Schule und als Gemeinschaft wäre. Und deshalb werden sie dagegen stimmen.


Es ist toll zu hören, dass Kinder ein Verständnis dafür entwickeln und solche Entschlüsse gemeinsam unter sich treffen können.


Ja, das ist wichtig. Aber wenn du „Kinder“ sagst, musst Du bedenken, dass bei unseren Schulversammlungen immer auch dreizehn, vierzehn, fünfzehn Erwachsene dabei sind. Wir sind alle gleichberechtigt. Und ich glaube es ist sehr wichtig, dass wir Erwachsenen auch für unsere Erfahrung geschätzt werden. Wenn man uns respektiert, dann liegt das daran, dass wir erfahren sind und meistens etwas Vernünftiges zu sagen haben.


Summerhill existiert jetzt seit über einhundert Jahren als eine Art selbstverwaltende Gesellschaft. Was bedeutet es, in einer hundertjährigen Demokratie zu leben, die mit der Zeit auch eine Art eigenen Geist oder Weisheit entwickelt hat?


Es ist wirklich etwas sehr Besonderes. Jeder, der die Schule besucht, ist berührt von der Atmosphäre, die hier herrscht. Es gibt eine bestimmte Energie hier… ein Geist von Ehrlichkeit vielleicht, ein fantastisches Gefühl, ich bin sicher, an anderen Freien Schulen kann man das Gleiche spüren. Es ist wunderbar, dass Summerhill schon so lange besteht, und die Schule hatte so viele Schwierigkeiten im Laufe der Zeit. Es ist großartig, dass wir überlebt haben.


Könnten Sie zwei oder drei Beispiele geben, was dieser Geist der Ehrlichkeit und das besondere Gefühl an der Schule im Alltag bedeuten?


Wir schießen aus der Hüfte, weißt Du. Wir sagen es, wie es ist, wir sind sehr ehrlich und sehr direkt. Wir haben eine Menge Humor. Wir lachen viel, wir ziehen einander auf, aber auf eine liebe und sanfte Art. Wenn jemand etwas braucht, sagt sie es einfach. Kinder sind sehr besonders, sie sind wunderbare Wesen, die ein bisschen anders sind als wir, eben weil sie noch Kinder sind. Aber sie können es wegstecken, dass man direkt mit ihnen ist. Wenn ein Kind zu einem kommt und eine richtig direkte Frage stellt über Tod oder über Sex oder so etwas, denkt man vielleicht erstmal: Wow. Aber ich beantworte solche Fragen immer so ehrlich ich kann, denn Kinder verdienen das, sie verdienen diesen Respekt. Die BBC hat mal einen Film über Summerhill gemacht. Als sie diesen Film drehten, sah ich einen der Techniker, er hatte überhaupt kein bestimmtes Interesse an Bildung, aber er wandte sich an einen seiner Freunde und sagte: „Die Kinder hier sind großartig, wenn sie dich ansehen, ist es, als könnten sie in deine Seele gucken.“ Ich finde, das ist sehr bezeichnend, denn das sagen mir Erwachsene häufig, wenn sie nach Summerhill kommen. Und eine weitere Sache an Summerhill ist, dass wenn man zu Besuch kommt, alles sehr lebhaft wirkt, aber gleichzeitig ganz ruhig. Es wird geschrien und gelacht und Kinder rennen rum und fahren Fahrrad und so. Aber die Atmosphäre ist ruhig, es fühlt sich sehr sicher und entspannt an.


Spiegeln sich Elemente der politischen Landschaft im Vereinigten Königreich in der Demokratie und der Gesellschaft an der Schule wider?


Summerhill könnte eine Menge beitragen, um der Demokratie in Westminster zu helfen. Wenn wir das House of Commons mit Summerhill-Schülerinnen füllen könnten, hätten wir ein ziemlich anderes Land als das, was wir jetzt haben. Vor allem weil sie wüssten, wie man sein eigenes Leben in die Hand nimmt, wie das Leute, die in Eton oder an ähnlichen Schulen waren, oft nicht tun. Die meisten unserer Politiker waren an noblen Privatschulen, von denen ich nicht glaube, dass sie einem wirklich eine Menge über Menschlichkeit und über das Leben beibringen. Glücklicherweise ist Summerhill während all den unterschiedlichen politischen Zeiten gleich geblieben, auch wenn es um sein Überleben kämpfen musste und zu einem gewissen Grad immernoch muss. Es beunruhigt mich sehr, den neuen Staatssekretär für Bildung zu sehen und die Themen, über die er spricht.


Wie steht es momentan mit dem Fortschritt der Reformen an Regelschulen, wie weit ist die Diskussion, was das Summerhill-Modell angeht?


Summerhill ist ein bisschen wie ein Soufflé. Soufflés sind sehr schwierig zu machen, und wenn man nicht aufpasst, fallen sie in sich zusammen. Ich glaube, Summerhill ist da ähnlich. Leute denken oft, wenn sie kleine Veränderungen an Summerhill vornehmen, können sie die Schule verbessern. Aber was sie nicht verstehen, ist, dass wenn man ein Rezept für ein Soufflé hat, und man lässt eine Zutat weg, dann könnte es leicht die Hauptzutat gewesen sein, die alles zusammenhält, und es stürzt ein. Zum Beispiel sagen die Gesetze für Internate, dass Jungen und Mädchen in verschiedenen Räumen untergebracht sein müssen. Damit sind wir einverstanden, Jungen und Mädchen leben bei uns in getrennten Räumen. Aber die Regeln sagen auch, Jungen und Mädchen müssen in getrennten Zonen leben. In unserem Hauptareal, wo die Gruppe von Schülerinnen und Schülern mittleren Alters lebt, also neun- bis dreizehnjährige, leben sie in Räumen, die aneinander angrenzen. Uns liegt sehr viel daran, weil das ein Teil vom Prozess ist, Gleichheit verstehen zu lernen. Deshalb sind unsere Mädchen so selbstbewusst und stark, weil sie den ganzen Tag von Jungs umgeben sind. Und unsere Jungs leben mit Mädchen zusammen, deshalb sind sie verständnisvoll und sanft. Aber den Schulinspektoren gefällt das nicht, sie wollen, dass wir die Geschlechter voneinander trennen. Das klingt vielleicht nicht wie eine große Sache, aber für uns ist das immens wichtig. Wir legen sehr viel Wert darauf, dass unsere Jungen und Mädchen zusammen leben können, denn durch das Zusammenleben lernt man etwas über das andere Geschlecht. Und man lernt sich auch selbst besser kennen. Garantiert werden wir das nächste Mal, wenn eine Schulinspektion ansteht, Probleme bekommen, sie werden Forderungen stellen. Es geht ihnen um Standards, Standards, Standards. Sie können nicht verstehen, wie es sein kann, dass ein Kind fünf Jahre lang nicht zum Unterricht geht und dann auf einmal in der Lage ist, seine Abschlussprüfungen zu schreiben. Und weil sie es nicht verstehen, akzeptieren sie es nicht.


Gab es in den letzten Jahrzehnten Zeiten, in denen sich die pädagogische Debatte in die Richtung entwickelt hat, an der Sie schon seit langer Zeit arbeiten?


Wir bekommen schon eine Menge Interesse von Universtitäten. Diesen Sommer werden wir gemeinsam mit dem Institute of Education, das Teil der London University ist, an einem Projekt arbeiten. Sie machen ein ganzes Programm, was sich mit Alternativer oder Demokratischer Bildung beschäftigt, daran werden wir mitarbeiten. Das wird sehr spannend, weil sie unseren Fortschritt anerkennen und ihn vorantreiben. Ich finde, unsere Methode verdient mehr Anerkennung, weil es an Schulen aktuell ein großes Problem mit geistiger Gesundheit gibt. Kinder verlassen die Schule oft erheblich traumatisiert. Wir haben Antworten, denn bei uns ist das anders. Wir kriegen dafür eine Menge Interesse, aber nicht von den Leuten, auf die es ankommt. Die entscheidenden Leute, die Regierung und die Minister, zeigen überhaupt kein Interesse an uns.


Gäbe es in einer politischen Lage, in der die Menschen offener für die Ziele und Methoden wären, die in Summerhill verfolgt werden, Möglichkeiten für eine Reform des staatlichen Schulsystems? Kann man schrittweise Fortschritte machen in Richtung des Modells, was Sie haben?


Bis dahin ist es ein weiter Weg, denn die meisten Menschen werden die Fixierung auf die Idee nicht los, dass Erfolg mit Leistung zu tun hat. Sie kommen davon nicht los. Leute fragen mich andauernd: Sind Eure Schülerinnen erfolgreich? Und ich sage dann immer, was soll das heißen, erfolgreich? Erfolg bedeutet für jeden etwas anderes, ich kann nicht entscheiden, ob sie erfolgreich sind oder nicht. Wenn die Kinder die Schule verlassen, und sie hatten eine gute Kindheit und sind glückliche Menschen und nehmen ihr Leben in die Hand, dann sind sie aus meiner Sicht erfolgreich. Aber die Kriterien für Erfolg in der Welt da draußen haben sehr viel mit akademischer Leistung zu tun. Die ersten Menschen, bei denen sich da etwas ändern müsste, sind die Eltern. Und die werden sich nicht einfach im Laufe einer Generation ändern. Das könnte schnell fünf Generationen oder bis in alle Ewigkeit dauern. Vielleicht sorgt das Thema der geistigen Gesundheit dafür, dass sich hier etwas bewegt. Aber ohne die Eltern hinter sich kann man jedenfalls keine großen Veränderungen an den Schulen in Gang setzen. Ich glaube, die meisten Eltern wollen immernoch, dass ihre Kinder auf eine „gute Schule“ gehen. Sie denken, die Lehrer können ihrem Kind beibringen, clever zu sein, dass wenn ihre Kinder auf eine gute Schule gehen und gute Lehrer haben, dass sie dann im Leben erfolgreich sind. Dass sie reich und berühmt werden und dann wird alles toll. Es ist tragisch, aber das scheint wirklich das zu sein, woran die Gesellschaft im Großen und Ganzen glaubt. Wenn man mir ein paar Millionen Pfund geben würde, könnte ich Schulen und Orte bauen, an denen das anders läuft. Ich habe einen Plan im Kopf, wie das gehen könnte. Aber das würde erhebliche Veränderungen bedeuten. Zuallererst würde es bedeuten, dass man nicht von allen Kindern erwartet, dass sie akademische Leistungen vollbringen, sondern wir müssten allen Menschen, wenn sie Maurer sind oder Straßenfeger, denselben Respekt entgegenbringen wie dem Premierminister. Und dazu sind nicht viele Menschen bereit, sie sind immernoch der Meinung, der Premierminister wäre etwas Besonderes. Sogar bei unserem jetzigen Premierminister.


Wenn ich ein Bildungspolitiker wäre, und ich müsste mich nun mal mit der Realität auseinandersetzen und mit all den Leuten, die davon nicht überzeugt sind, welche kleinen Veränderungen könnte ich in die Wege leiten, die in die richtige Richtung gehen?


Ich denke, als erstes müsste man die Beziehung zwischen Erwachsenen und Schülerinnen verändern und sie sehr viel egalitärer gestalten. Mir ist selbstverständlich bewusst, dass es an einer Regelschule notwendig ist, die Kontrolle zu behalten. Das verstehe ich schon. Aber man kann trotzdem freundlich und vernünftig mit Leuten umgehen, ohne die Kontrolle zu verlieren. Ich glaube, es ist sehr wichtig, dass Kinder andere Optionen haben als nur akademischen Unterricht. Sie müssen sich an Orten ausprobieren dürfen, die durchaus Anforderungen an sie stellen können, aber nicht unbedingt akademische Anforderungen. Sie müssen ein bisschen Dampf ablassen können, sie brauchen Orte, an denen sie rausgehen und für eine Stunde rumrennen und Quatsch machen können. Oder Orte, wo sie hinkommen und sich mit Holzarbeit oder Kunst oder auf entspannte Art mit Sport beschäftigen können, nicht nur organisierten Sport, sondern einfach Sport zum Spaß, Spiele, Skateboarden, Sachen, auf die sie Lust haben. In Summerhill haben wir bewiesen, dass frei herumlaufende Kinder, die nicht in den Unterricht gezwängt werden, durchaus in der Lage sind, akademische Leistungen auf hohem Niveau zu erbringen, wenn sie wollen. In unserem Land hört man manchmal Leute sagen: Die Kinder gehen jetzt auf die Straße mit Greta Thunberg, und sie verschwenden dafür einen ganzen Schultag. Diese Leute müssen verstehen, dass Kinder nicht fünf Tage die Woche von neun bis drei arbeiten müssen. Sie können ruhig mal einen Tag frei bekommen, an dem sie losziehen und andere Sachen machen können. Wenn Du Staatssekretär für Bildung wärst, wären das Sachen, die Du anstoßen könntest. Einige Eltern würde das zwar vor den Kopf stoßen, aber es würde auch einer ganzen Menge Eltern sehr viel mehr Vertrauen darin geben, dass ihre Kinder zumindest auch eine richtige Kindheit haben.


Das wichtigste wäre also, dass die Barrieren der formellen Autorität der Lehrer abgebaut werden, und dass man von der Idee loskommt, dass man immer zwangsweise im Unterricht sitzen muss?


Das letzte ist vor allem wichtig, ja. Das Verhältnis von Erwachsenen zu Schülerinnen, was ich zuerst genannt habe, ist tatsächlich nachrangig. Das wichtigste ist, dass Kinder Zeit und Raum bekommen, wo sie einfach nicht im Unterricht sein müssen. Wenn ich jetzt in den Unterricht gehen müsste, würde ich auch abschalten. Ich werde nicht irgendwo zuhören, von dem ich gelangweilt bin, und Kinder müssen das jeden Tag tun, überall auf der Welt. Sie sitzen im Unterricht und schalten einfach nur ab.


Gibt es Möglichkeiten für Eltern, deren Kinder auf Regelschulen gehen, ihr Familienleben so zu gestalten, dass es diesem Einfluss der Schule entgegenwirkt?


Darüber habe ich kürzlich ein Buch geschrieben („Barefoot in November“). Darin habe ich versucht, Leuten einen Eindruck davon zu vermitteln, wie das Leben für Kinder in Summerhill aussieht, und wie man das zu Hause nachbauen kann. Wie zum Beispiel, dass man sein Kind in Ruhe lässt, dass man es sich um seine Angelegenheiten kümmern lässt und es nicht andauernd bespaßt. Und ihm einfach Raum lässt, es selbst zu sein. Das heißt nicht, dass sie das Haus in Schutt und Asche legen können oder andauernd Lärm machen. Das muss man nicht zulassen, aber sie sollten sie selbst sein können. Im Grunde einfach sehr direkt und klar mit ihnen zu sein, und gleichzeitig mehr, wie man mit Freunden oder Mitbewohnern umgehen würde.


Übt das Vermächtnis ihres Vaters AS Neill als Schulgründer großen Druck auf Sie aus? Haben Sie sich von Teilen seines Ansatzes verabschiedet und einen anderen Weg entwickelt, wie Sie die Schule führen?


Nein. Wir sind beim ursprünglichen Rezept geblieben. Die Grundprinzipien von Summerhill sind meiner Meinung nach nahe dem, wie sich menschliche Gemeinschaften natürlich entwickelt haben, es ist eine sehr natürliche Art des Zusammenlebens. Wir haben daran keine Veränderungen vorgenommen, aber das machen wir nicht aus Ehrfurcht vor AS Neill. Wir machen es so, weil es verdammt gut funktioniert. Summerhill hat sich immer sehr gut anpassen können, weil es ein organischer Prozess ist. In den Vierzigern oder Fünfzigern hat Neill Kinder an die Schule bekommen, die von ihren Vätern geprügelt wurden. Heute kommen mitunter Kinder zu uns, die überhaupt keine Grenzen kennen, die zuhause alles tun dürfen, was ihnen gefällt. Summerhill findet sich jetzt plötzlich in der Rolle der Disziplinärin wieder, was eigentlich ein Witz ist. Dabei hat sich die Schule selbst überhaupt nicht verändert. Sie hat nie jemandem erlaubt, sich einfach nur so zu verhalten, wie er es wollte, und sie tut das bis heute nicht. Genau deshalb funktioniert unser Modell so gut, weil es um Menschlichkeit geht. Es geht um unsere persönliche Freiheit und um unsere Beziehungen.

Hauptgebäude der Summerhill School in Leiston, England

bottom of page