Tim Kuhner über Geld in der Politik [DEUTSCH]
Im Interview spricht Professor Tim Kuhner über die Rolle von Geld in der Politik, den Klimawandel und Mittel gegen die Hoffnungslosigkeit junger Menschen im Angesicht struktureller Ungerechtigkeit.
„How can this not be front page news everyday?“

Tim Kuhner ist Associate Professor of Law an der University of Auckland, Neuseeland. Er forscht, lehrt und schreibt an der Schnittstelle von wirtschaftlicher und politischer Ungleichheit und dem Recht der Demokratie. In seinem 2014 erschienenen Buch „Capitalism v. Democracy. Money in Politics and the Free Market Constitution“ zeichnet er nach, wie der Supreme Court als höchstes Gericht in den USA eine Rechtslage geschaffen hat, in der finanzielle Eliten einen dominierenden Einfluss auf politische Prozesse ausüben. 2020 veröffentlichte er das Buch „Tyranny of Greed“, das sich mit der Entstehung und Wirkung der Präsidentschaft von Donald Trump beschäftigt.
Im Interview hat mich vor allem interessiert, wie der beherrschende Einfluss finanzieller Eliten auf die Demokratie zustandekommen konnte und warum es nicht mehr öffentlichen Widerstand gegen diese extreme Machtkonzentration gibt. Die Rechtslage und Verfassungsinterpretation, die dem zugrunde liegt, wird nur sehr dürftig mit dem Verweis auf freiheitliche Ideale legitimiert und hält empirischer Untersuchung nicht stand. Trotzdem gibt es kaum mediale Aufmerksamkeit für und öffentlichen Widerspruch gegen die Strukturen, die dieses System aufrechterhalten.
Kuhner warnt vor kurzen Aufmerksamkeitsspannen, blindem Karrierismus und Resignation und fordert politische Gleichheit und gesunde Empörung im Angesicht strukturell korrupter Demokratien und des katastrophalen Klimawandels.
Das Interview steht auch auf Englisch sowie als gekürzte Videofassung zur Verfügung.
Weiterführende Quellen:
UN: Bericht über die menschliche Entwicklung 2019 (Deutsch/Englisch)
IPSOS: Umfrage zu Broken-System Sentiment 2021
OECD: Trustlab 2017
Transparency International: Corruption Perceptions Index 2021
M. Gilens, B. Page: Studie „Testing Theories of American Politics“ 2014
L. Elsässer et al. (MPIfG): Studie „Government of the People, by the Elite, for the Rich“ 2018
L. Bartels: Studie „Political Inequality in Affluent Democracies: The Social Welfare Deficit“ 2017
In Ihrem Buch „Capitalism v. Democracy“ zeigen Sie auf, wie der US-amerikanische Supreme Court entschieden hat, dass die Redefreiheit auch politische Geldspenden schützt. Außerdem hat das Gericht dafür gesorgt, dass Redefreiheit schwerer wiegt als die Chancengleichheit im politischen Prozess. Die Redefreiheit wird damit zu einem Instrument der Verschmelzung von finanzieller und politischer Macht. Wie genau hat der Supreme Court das bewirkt?
Ich habe das Buch „Capitalism v. Democracy“ genannt, weil es so wirkt, als würden hier zwei Kontrahenten einander gegenüberstehen. Einer von ihnen ist eine idealisierte Version der freien Marktwirtschaft, eine hypothetische Welt aus perfekt informierten Konsumenten und Unternehmen, die über die Qualität ihrer Produkte und ihre Preise miteinander konkurrieren. Wo jeder seine Geschäftigkeit und sein Kapital einsetzen kann, um mit anderen in Wettbewerb zu treten, und wo jede Beschränkung davon Sozialismus, Kommunismus oder etwas anderes Negatives ist. Das ist seit langem Gegenstand ökonomischer Theorien und wird in unterschiedlichen Ausmaßen Ökonomien auf der ganzen Welt zugrundegelegt.
Für mich wurde es interessant, als ich bemerkte, wie Aspekte dieser ökonomischen Theorie in die Demokratietheorie hineintransportiert wurden. Und zwar nicht nur in Büchern und Artikeln, sondern auch vom Supreme Court der USA, als er Urteile über die Verfassungsmäßigkeit einer Reform des Wahlkampffinanzierungsrechts gefällt hat. Mit Wahlkampffinanzierungsreform meine ich die Finanzierung von Politik insgesamt: Finanzierung von politischen Parteien, von Kandidatinnen und ihren Wahlkampagnen, Finanzierung von politischer Rede, die Rolle von außerparlamentarischen Interessengruppen, die Bezahlung von Lobbyisten, die bestimmte Gesetzesvorhaben oder die öffentliche Debatte beeinflussen wollen. Das umfasst auch öffentliche Finanzierung von Parteien und Kandidaten, Medienzeiten und so weiter. Im Grunde geht es darum, wie wir für die Prozesse bezahlen, die uns eine Regierung und Gesetze und Regelungen geben.
Der Supreme Court hat zwischen 1976 und 2014 eine lange Reihe von Urteilen über Wahlkampffinanzierungsgesetze gefällt. Buckley v. Valeo von 1976 ist das wegweisende Urteil über die Verfassungsmäßigkeit des Federal Election Campaign Act. Darin entscheidet der Supreme Court kraft seiner Befugnis, Gesetze zu kippen, die nicht mit der Verfassung der USA im Einklang stehen, dass Höchstgrenzen für Wahlkampfausgaben verfassungswidrig sind. Die Begründung dafür ist, dass der Versuch des US-Kongresses, die Gewichte der politischen Stimmen von unterschiedlichen Bürgern auszugleichen, damit die Reichen nicht die Armen übertönen können, dass diese Motivation des Ausgleichs politischer Machtverhältnisse dem Prinzip der Redefreiheit aus dem ersten Zusatzartikel der Verfassung vollkommen fremd sei.
Mehrere Dinge sind daran seltsam. Zum Beispiel steht im ersten Zusatzartikel nur, dass der Kongress nicht gesetzlich die Redefreiheit einschränken darf. Bevor der Supreme Court also erklären kann, dass politische Gleichheit der Redefreiheit entgegensteht, muss er entscheiden, dass Geld das gleiche ist wie Rede. Denn was der Kongress getan hatte, war nichts weiter, als finanzielle Ausgaben von Kandidaten, Parteien und Interessengruppen zu regulieren. Zuallererst musste der Supreme Court also entscheiden, dass in unserer freien Marktgesellschaft, so ungefähr nennen sie das, dass darin alle Aktivitäten im Zusammenhang mit politischer Rede auf Geld angewiesen sind und dass deswegen Geld Rede ist.
Im Grunde sagt der Supreme Court, dass weil in den USA alles privatisiert ist und wir keine öffentlich finanzierten Medien und Wahlkämpfe haben, weil wir also in einer freien Marktwirtschaft leben, wir auch Geld brauchen, um unsere Politik zu finanzieren. Als ob Demokratie ein privatisierter Wirtschaftszweig ist. Schon dieser Ausgangspunkt ist sehr merkwürdig, weil er einfach den Status quo als gerecht und natürlich akzeptiert. Der Supreme Court nimmt die existierende Ordnung einfach als präpolitisch und angemessen hin, und in dieser Ordnung braucht man einfach Geld, um Gehör zu finden. Und wenn es ohne Geld keine Rede gibt, kann man das Geld auch nicht anders behandeln, als man die politischen Ansichten selbst behandelt.
Ich finde diesen Schritt extrem gefährlich und intellektuell unredlich. Denn Geld ist kein Ausdruck davon, wie wichtig jemandem etwas ist. Wenn ich fünf Milliarden Dollar hätte und ich wollte für einen politischen Zweck hunderttausend Dollar spenden, wie sehr müsste ich dann davon überzeugt sein, um dafür hunderttausend Dollar von meinen fünf Milliarden zu geben? Aber wenn ich nur zehntausend Dollar hätte und ich müsste einen Bankkredit aufnehmen und mir Geld von allen Menschen um mich herum leihen und so auf hunderttausend Dollar kommen, dann würde ich das nur tun, wenn es bei diesem Belang um Leben und Tod für mich geht, wenn das das wichtigste auf der Welt für mich ist, wichtiger, als dass meine Kinder etwas zu essen bekommen. Die Preissignale auf dem sogenannten politischen Markt sind kein akkurater Ausdruck davon, welche Bedeutung etwas für jemanden hat.
Die Argumentation des Supreme Court enthält also all diese Trugschlüsse. Der einzige Weg, wie man freie politische Rede einschränken kann, ist mit einem sehr wichtigen staatlichen Interesse, einem sehr guten Grund für die Beschränkung. Wie wenn eben der Kongress sagt, wir wollen die Stimmen von verschiedenen Bürgern ausgleichen, wir wollen für demokratische Integrität sorgen, wir wollen eine Politik schaffen, an der jeder, der interessiert ist, wirklich teilnehmen kann.
Der Supreme Court schaut sich diese ganzen Gründe an und sagt, dass keiner von ihnen wichtig genug ist. Wie kann er entscheiden, dass die Freiheit, Geld auszugeben, wichtiger ist als alle Gleichheitselemente in der Verfassung? Es liegt daran, dass die Gleichheitselemente in der Verfassung ziemlich vage formuliert sind und der Supreme Court keines von ihnen als anwendbar und relevant interpretiert.
In Buckley v. Valeo werden also Teile der richtungsweisenden Wahlkampffinanzierungsreform kassiert, die als Reaktion auf den Watergate-Skandal umgesetzt wurde, ein Meilenstein in der politischen Geschichte der USA, als die Öffentlichkeit bemerkte, welches Ausmaß die Korruption annehmen konnte. Nach Buckley gehen die Entscheidungen in verschiedene Richtungen, es hängt von den jeweils amtierenden Richtern ab. Es gab den Supreme Court unter William Rehnquist, der war Wahlkampffinanzierungsreformen gegenüber etwas positiver eingestellt und hat den unangemessenen Einfluss von konzentriertem Reichtum adressiert. Austin war hier ein wichtiger Fall und McConnell im Jahr 2003.
Circa 2006 wurde dann John Roberts Vorsitzender Richter, und unter ihm entpuppte sich der Supreme Court als ein noch radikalerer libertärer Verfechter des freien Marktes. Gegenwärtig ist die Politik in den USA also zunehmend das Ergebnis eines freien politischen Marktes statt einem Ort, wo Bürgerinnen und Bürger gemeinsam teilnehmen und sich beraten beraten können und unabhängig von ihrem sozioökonomischem Status repräsentiert werden. Deshalb spreche ich von Plutokratie und von politischer Ausgrenzung aufgrund von Vermögen.
Versteht der Supreme Court die Redefreiheit als Selbstzweck oder als Mittel, mit dem gesellschaftliche Zwecke verfolgt werden? Haben Anwältinnen versucht, mit empirischen Argumenten die optimistischen Annahmen über die Gesellschaft zu widerlegen, die dieser Interpretation der freien Rede durch den Supreme Court zugrundeliegen?
Das Verständnis des Supreme Courts von freier Rede ging zunächst davon aus, dass sie Teil eines größeren demokratischen Systems ist und demokratischen Zielen zu dienen hat. In einer Schlüsselpassage aus Buckley von 1976 heißt es, der Zweck des ersten Zusatzartikels und der freien Rede sei, einen offenen politischen Marktplatz zu schaffen, damit sich die sozialen und politischen Veränderungen einstellen können, die sich die Menschen wünschen. Noch 1976 versteht der Supreme Court den Zweck des ersten Zusatzartikels also darin, dass er Wettbewerb ermöglichen soll, und benutzt einen offenen Marktplatz als Metapher für eine Demokratie, die empfänglich für die Bedürfnisse der Menschen ist.
Dagegen lässt sich ja scheinbar nichts einwenden, dass man niemanden zensieren sollte und alle das Recht haben zu sprechen, dass das Wahlvolk nicht dumm ist, und wenn man den Menschen alle Informationen zur Verfügung stellt, sie sich ihre eigenen Meinungen bilden und dass die Wahrheit siegen wird. Eine sehr romantische und liberaldemokratische Vorstellung. Das Problem ist nur, dass sie nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Schon in den 1970ern gab es ziemlich stichhaltige Beweise dafür, dass die Wirtschaft mit unverhältnismäßig großen Geldsummen regelmäßig die Debatten und Wahlentscheidungen beeinflusste, und es gab zahlreiche Korruptionsskandale während des gesamten 20. Jahrhunderts. Solche Beweise wurden in den Gerichtsverhandlungen auch vorgebracht, dass die Reichen den politischen Markt dominieren würden, dass es dort keinen echten Wettbewerb geben würde und auch nie gegeben hatte. Der Supreme Court hat das im Wesentlichen ignoriert.
Seitdem ist es viel schlimmer geworden, denn seit 1976 sind eine Reihe von Studien erschienen, die vollkommen eindeutig zeigen, dass das Geld regiert, dass die Reichen besser repräsentiert werden und auf ihre Belange mehr Rücksicht genommen wird. Die berühmteste davon ist von Martin Gilens und Benjamin Page, sie ist 2014 erschienen und heißt „Testing Theories of American Politics“. In dieser Studie wird empirisch nachgewiesen, dass Politiker und andere gewählte Staatsdiener sehr sensibel für die Präferenzen der Wohlhabenden sind und sehr unsensibel für die Präferenzen der Mittelschicht und der Armen. Und dass wenn die Mittelschicht und die Armen im Gesetzgebungsverfahren ihren Willen bekommen, dass es in der Regel nur zufällig geschieht, weil die Wohlhabenden sich dem nicht widersetzen.
Natürlich gibt es auch Gegenbeispiele, ab und zu funktioniert die Macht der Mehrheit. Aber grundsätzlich ist die Plutokratie sehr effektiv darin, die Wahl der Themen zu kontrollieren. Sie macht eine große Sache aus moralischen und sensationalistischen Themen und versteckt dabei die großen Zusammenhänge wie die Verteilungsfragen, das Steuerrecht, Schadensersatzhaftung, Umweltrecht, Welthandelsrecht, das Renten- und Sozialrecht. All diese Dinge sind vor echtem öffentlichem Einfluss einigermaßen abgeschirmt.
Ein anderer bemerkenswerter Fakt ist, dass fast das gesamte Geld, das politische Parteien und Wahlkämpfe finanziert, vom reichsten Prozent oder einem noch kleineren Teil der Bevölkerung kommt. Die reichten 0,5 bis 0,1 Prozent der Leute sind für fast all die Spenden und privaten Ausgaben verantwortlich, die die politische Debatte am Laufen halten. Es gibt also wirklich eine „Spenderklasse“, wie sie der Rechtsprofessor Spencer Overton nennt. Diese Leute sind nicht bloß reich, weiß, Männer und haben einen Uniabschluss. Der Teil ist klar. Es geht zwar um den Einfluss von reichen weißen College-ausgebildeten Männern, ihre entscheidende Eigenschaft ist aber ihre konservative wirtschaftliche Philosophie.
Die Superreichen haben ganz andere politische Präferenzen als die Durchschnittsbürgerinnen in irgendeinem Land. Das ist das Problem, und der Supreme Court ignoriert das vollkommen. Es gibt sehr wenige Länder auf der Welt, in denen nicht nur die Reichen die Politik kontrollieren, sondern wo auch noch das höchste Gericht des Landes entschieden hat, dass Demokratie auch genau so sein muss. Das ist eine Plutokratie de jure, nicht nur de facto. Und das ist das interessante am Fall der USA, dort gibt es ein offiziell bestätigtes und legitimiertes System der politischen Ausgrenzung.
Sie argumentieren, dass es kapitalistische Werte untergräbt, wenn Unternehmen sich über politische Einflussnahme Vorteile auf dem Markt verschaffen. Gibt es Bemühungen aus der privaten Wirtschaft, die Rolle des Geldes in der Politik zu begrenzen, um den Markt vor dieser ungebührlichen Einflussnahme zu schützen?
Die meisten Interessengruppen, die sich für Wahlkampffinanzierungsreformen einsetzen, sind tatsächlich Bürgerbewegungen und werben Spenden von normalen Leuten ein. Aber es gibt definitiv auch reiche Amerikaner, die gegen Geld in der Politik sind. Sie wollen den wirtschaftlichen Wettbewerb nicht im politischen Bereich austragen, sondern sich auf Grundlage ihrer Intelligenz, Effizienz, Vorstellungskraft und so weiter durchsetzen. Korrupte Geschäftsleute denken sich stattdessen, ich bin vielleicht nicht am schlausten, mein Produkt ist nicht das beste, aber wenn ich die politischen Bedingungen zum Nachteil meiner Konkurrenten beeinflusse, kann ich erfolgreich sein und andere ausstechen.
Ich finde diese Perspektive sehr interessant, weil ich das Thema Geld in der Politik nicht für eine parteipolitische Frage halte. Meiner Meinung nach ist das mehr eine Frage von Korruption. Und ich bin der Ansicht, Menschen, die den Einfluss von Geld in der Politik verteidigen, verteidigen absichtlich oder versehentlich auch ein System von legalisierter Bestechung und politischer Ausgrenzung. Sogar ziemlich extreme Kapitalistinnen wie Ayn Rand in ihren frühen Arbeiten mit Leuten wie Alan Greenspan, der später Chef der US-amerikanischen Notenbank Fed wurde, schrieben über das moralische Übel des Lobbyismus. Sie waren überzeugt, dass wirtschaftlicher Wettbewerb auf Basis der Qualität von Produkten und Dienstleistungen stattfinden sollte, nicht aufgrund von politischem Einfluss.
Wenn man sich Meinungsumfragen in den USA ansieht, zeigt sich, dass auch die meisten Republikaner gegen den Einfluss von Geld auf die Politik sind. Donald Trump hat seine Wahl teilweise mit dem Versprechen gewonnen, den „Sumpf trockenzulegen“. Ich sehe das also nicht als parteipolitische Frage, sondern als eine von Korruption. Es gibt Leute, die bedienen sich einer Sprache, die sehr demokratisch klingt. Aber in Wahrheit verraten sie sowohl die Demokratie als auch den Kapitalismus.
Für wie stark halten Sie aktuelle Bemühungen um eine Verfassungsänderung und wie motiviert man Menschen für eine so langfristige Aufgabe?
Seit langer Zeit werden Meinungsumfragen durchgeführt, die die Salienz von verschiedenen Themen in der öffentlichen Wahrnehmung untersuchen, also was die Prioritäten der Bevölkerung sind. Normalerweise geht es dabei hauptsächlich um wirtschaftliche Fragen, um Arbeitsplätze und Steuern. In der Regel ist Wahlkampffinanzierungsrecht ziemlich weit unten auf der Liste, das war aber nicht immer so. Zur Zeit des Watergate-Skandals und auch schon früher, zwischen dem Gilded Age und der New Deal-Zeit, also von circa 1890 bis 1950, gab es Zeiten, in denen die Öffentlichkeit sich sehr bewusst war über Korruption und wie die Politik unerreichbar und unempfänglich für gewöhnliche Leute geworden war. In diesen Zeiten wurden auch einige bedeutende Reformen umgesetzt. Aber keine von ihnen war eine Verfassungsänderung. Und das bedeutet, dass all jene Reformen entweder von neuen Gesetzen überschrieben oder vom Supreme Court gekippt werden können.
Das wichtigste ist dabei, dass diese Gesetze in den Köpfen und Herzen der Menschen keinen Verfassungsrang haben. Die Öffentlichkeit hat ein sehr kurzes Gedächtnis, und die Medien haben ein noch kürzeres. Wir leben in einer Aufmerksamkeits-Defizits-Gesellschaft. Es gibt so viele wichtige Lektionen aus der US-amerikanischen Geschichte, schon Thomas Jefferson und Abraham Lincoln haben über den Einfluss von Geld in der Politik gesprochen. Aber an dieser Stelle ist die Bürgerrechtsbewegung zum Erliegen gekommen. Es gibt jetzt Black Lives Matter, wo die Bürgerrechtsbewegung in mancher Hinsicht wieder große Kraft bekommen hat. Aber bei der Bürgerrechtsbewegung ging es auch um verfassungsrechtliche Fragen, um systematische politische Ausgrenzung. Was das angeht, ist die Energie, die kritische Masse von Bürgerinnen und Bürgern, verschwunden.
Das hatte auch mit dem Fall der Sowjetunion zu tun, mit dem Eindruck, dass die liberale Demokratie gewonnen hatte. Aber die Frage, die verfassungsrechtlich nie thematisiert wurde, ist, ob es politische Ausgrenzung auf Basis von sozioökonomischem Status oder Wohlstand geben darf. Nicht nur ethnische Herkunft, nicht nur Geschlecht und Religion und all diese Kämpfe, die gewonnen wurden. Wir haben nie den Kampf um politische Inklusion gewonnen, wenn es ums Geld geht.
Das Problem ist, dass das Wahlkampffinanzierungsrecht zu einem isolierten Thema geworden ist: Ist Dir der Staat wichtig oder die Wirtschaft oder Abtreibungsrechte oder Waffengesetze oder Wahlkampffinanzierungsrecht. Aber Wahlkampffinanzierungsrecht ist anders als all diese anderen Themen, weil es den Prozess regelt, durch den alle politischen Themen debattiert und entschieden werden. Den Prozess, durch den jede Regierung, jede Präsidentin und jede Richterin ins Amt kommt. Es ist das Meta-Thema, das den Rahmen oder die Spielregeln festlegt. Dieser Punkt ist noch nicht in den Köpfen der Menschen angekommen.
Schwer zu sagen, wie sich das ändern kann. Es gibt ein altes Sprichwort, dass die Dinge erst schlimmer werden müssen, bevor sie besser werden können, und dass Leute keine großen Veränderungen machen, bis es eine echte Krise gibt. Der Klimawandel könnte so eine Krise sein. Ich interessiere mich sehr für den Klimawandel, wegen des Schicksals der Menschheit und aller anderen Spezies auf dem Planeten, aber auch, weil der Klimawandel weitgehend ein Produkt von Geld in der Politik und von Korruption ist. Ich frage mich, ob der Klimawandel vielleicht so ein Thema sein kann, das eine politische Bewusstseinsänderung herbeiführt. Denn wenn der es nicht schafft, weiß ich nicht, was es sonst könnte.
Was sind positive und negative Beispiele, wie die Medien die Debatte um Geld in der Politik beeinflussen?
Ehrlich gesagt sind die positiven Beispiele gleichzeitig auch die negativen. Es gibt massenweise Berichte über den Einfluss von Geld auf die Politik. Aber das Negative an all der Aufmerksamkeit ist, dass nicht beleuchtet wird, inwieweit es sich um ein strukturelles Problem handelt. Die Berichterstattung lässt es so aussehen, als handele es sich um ein paar faule Äpfel, während wir in Wahrheit in einem faulen Korb sitzen.
Natürlich kann man ein paar Schritte zurücktreten und über die wirtschaftliche Konzentration im Mediensektor sprechen. Wie die profitorientierten Medien im einem fast schon überwachungskapitalistischen Wettstreit um Klicks und Aufmerksamkeit stehen, um den Suchtfaktor ihres Contents und wie das die unfassbar kurzen Aufmerksamkeitsspannen erzeugt, die wir heutzutage alle haben.
Ich denke, das Problem ist die Art der Berichterstattung, das Sensationalistische daran. Das interessante sind ja nicht all die Details, wo dieser oder jener korrupte Politiker auf Kosten von Lobbyisten hingereist ist, dass sie zum Golfen nach Schottland geflogen sind, was sie da gegessen haben und wieviel das gekostet hat. Das sind zwar schon wichtige Informationen für Wählerinnen, weil es sie empören kann und zeigt, wie weit sich manche Leute in der Politik von dem entfernt haben, was eigentlich ihr Job ist.
Aber man muss sich darauf konzentrieren, dass sich solche Skandale wiederholen, weil es nicht genug Quellen von sauberem Geld für Politikerinnen gibt. Selbst wenn Deine politischen Spender Dich nicht zum Golfen nach Schottland einladen, musst Du zu ihnen gehen und nach Geld fragen. Studien über US-amerikanische Abgeordnete haben gezeigt, dass sie regelmäßig um Geld telefonieren. Sie gehen zu ihren privaten Wahlkampfbüros auf der anderen Straßenseite von ihren öffentlichen Büros und rufen Leute an, um Geld für ihren nächsten Wahlkampf einzuwerben. Es ist das System, das korrupt ist. Alle politischen Akteure sind auf einen winzigen Anteil des Wahlvolks für das Lebenselixier der Politik angewiesen: Das Geld, das sie brauchen, um gewählt oder wiedergewählt zu werden.
Es ist genau wie beim Klimawandel. Die Medien schreiben: Es gab wieder eine Flut, und guck mal, schon wieder ein Hurrikan, und hier gab’s ’ne Dürre, berichten wir über alle Details dieser Dürre. Aber worum es doch auf der Titelseite jeder Zeitung und jedes Medienfeeds gehen müsste, ist die Nachhaltigkeit und Stabilität der Ökosysteme, des Lebens auf der Erde; wie wir als Menschen auf ein nachhaltiges Klima angewiesen sind, um die immensen Auswirkungen, die der Klimawandel auf Migration haben wird und auf unsere Fähigkeiten, Nahrungsmittel anzubauen und in den Sommern und Wintern zu überleben. Wie kann es sein, dass das nicht jeden Tag auf allen Titelseiten steht, dass diese Dinge jetzt nicht mehr sicher sind? Und dass künftige Generationen vielleicht überhaupt kein Leben in Sicherheit und Würde und Stabilität mehr kennen werden?
Das Gleiche ist es mit der Demokratie. Wir haben immernoch keine echte Demokratie, all die Themen, die uns am Herzen liegen, werden mitten in einem Sumpf aus Korruption und unfairer Einflussnahme verhandelt. Die guten Äpfel sind dabei absolut im Nachteil. Wir müssen die unfairen Verhaltensweisen verbieten, um die unethischen Leute davon abzuhalten, sich immer wieder gegen die ethischen durchzusetzen.
Warum sollten sich Menschen auch außerhalb der USA, zum Beispiel in Deutschland, für den Einfluss von Geld in der Politik, für systemische Korruption und Plutokratie interessieren?
Plutokratie ist ein globales Problem, nicht nur ein US-amerikanisches. Nehmen wir den UN-Bericht über die menschliche Entwicklung von 2019. Darin wird gezeigt, dass ökonomische Ungleichheit oft auf politischer Ungleichheit beruht. Der Report hebt hervor, dass privilegierte Gruppen „das System nutzen und nach ihren Wünschen gestalten“ und so „systematische Ausgrenzung oder Klientelwirtschaft“ erzeugen. Als Instrumente zur Beeinflussung der Regierung nennt der Bericht Lobbying, Wahlkampffinanzierung und Eigentum an Medien und Information. Eine der fünf Kernbotschaften des Dokuments ist: „Wir können Ungleichheiten beseitigen, wenn wir jetzt handeln, bevor sich ungleiche wirtschaftliche Machtverhältnisse politisch etabliert haben.“
Die Studie von Martins Gilens und Benjamin Page über politische Empfänglichkeit für verschiedene Schichten, die ich vorhin erwähnte, heißt nicht, dass die USA ein Ausnahmefall sind. Diese Arbeit hat gezeigt, dass Massenbewegungen und Durchschnittsbürgerinnen nur geringen oder gar keinen messbaren Einfluss auf die US-amerikanische Regierung haben, während wirtschaftliche Eliten substanziellen eigenen Einfluss ausüben. 2018 hat eine Studie des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung die selben Erkenntnisse nahezu wörtlich auch für Deutschland nachgewiesen.
Die USA sind also ein extremer Fall von Plutokratie, gleichzeitig sind sie aber auch ein Indiz für den Verfall der liberalen Demokratien weltweit. Vielleicht ist die Plutokratie in den USA die auffälligste unter den vermeintlich entwickelten Demokratien, aber sie ist sicher nicht die einzige.
Gibt es unter jungen Menschen in verschiedenen Ländern ein gemeinsames Verständnis, was sich ändern muss?
Studierende und andere Leute, die ich an den verschiedenen Orten, an denen ich gelebt und gelehrt habe, getroffen habe, teilen meist die gleichen Grundwerte. Wir alle haben Ideale von politischer Gleichheit, Freiheit und Partizipation, von Repräsentation und Legitimität. Wenn Leute zum ersten Mal die Daten und Rechtsquellen zu meinen Forschungsthemen sehen, ist eine häufige Reaktion: „Oh Gott, das kann nicht sein, das ist ja schrecklich, im Ernst?“. Oft gibt es auch die Reaktion: „Na klar, das wusste ich längst, es ist schön, das jetzt systematisch und tiefgründig analysieren zu können.“ Es gibt kaum je eine Person, die sagt: „Nein, das ist nicht wahr, du bist voreingenommen.“
Und es gibt so gut wie niemanden, der das sagt, weil es mittlerweile so viel Datenmaterial zu diesem Thema gibt, und zwar von absoluten Mainstream-Quellen. Ich gebe in meinen Kursen keinerlei marxistische Lektüre auf, weil es vollkommen unnötig ist. Man kann dieses ganze Thema von der Frage aus erschließen: Wie wollen wir in liberalen Demokratien, dass das System funktioniert, was sagen unsere Verfassungen und Gesetze, wie es funktioniert, und wie funktioniert es tatsächlich? Und man sieht einfach eine unglaubliche Distanz zwischen der Ideologie oder den Werten, die wir alle teilen, und der Realität, wie die Dinge wirklich sind.
Natürlich gibt es gelegentlich Studierende, die politisch eher rechts sind, und ich freue mich jedes Mal, mit ihnen zu arbeiten. Ich hatte schon tolle Diskussionen mit marktliberalen Studierenden. Bei Trumpismus ist das etwas anderes, weil der schnell in Faschismus übergeht, aber das begegnet mir an der Uni praktisch nie.
Die größte Hürde bei all diesen Themen, bei Demokratie und auch beim Klimawandel, ist aus meiner Sicht Depression. Nicht im pathologischen Sinne, sondern eine sehr rationale Haltung im Sinne von: „Diese Probleme sind zu groß, immer wird versprochen, dass sie gelöst werden, und nie löst sie jemand. Das wird sich niemals ändern, es hat keinen Zweck.“ Deshalb bewundere ich Greta Thunberg, weil sie über diese Themen nicht aus einer Depression, sondern aus einer absoluten Weigerung zur Resignation heraus spricht. Sie spricht mit einer Haltung von Empörung.
Und Empörung, das kompromisslose Aussprechen der Wahrheit, ist ein Gegenmittel gegen diese Depression. Wenn Du Deine Empörung akzeptierst und sie kanalisierst, dann führt das zu politischer Aktion. Wenn es stimmt, dass die Dinge falsch laufen, wie kann ich dann ein Leben mit Integrität führen, wie kann ich nach meinen Werten leben? Der Trick ist, niemals sich selbst zu fragen, ob man das Problem lösen kann, denn man selbst kann diese Dinge niemals alleine lösen, es sind nicht individuelle Leistungen, die notwendig sind. Es sind Gruppenleistungen.
Wir müssen nur ehrlich und mutig genug sein, uns einzugestehen, wie schlimm die Situation ist, uns zusammenschließen und einen Teil unserer Zeit damit verbringen, so zu handeln, als wären all diese Dinge wahr, denn sie sind wahr. Wir sollten nicht so tun, als wäre das nicht die Wirklichkeit, und uns in unseren konsumkapitalistischen Lebensstil mit seinem Junkfood und endlosen Content zurückziehen. Aus meiner Sicht sind Depression, gefühlte Machtlosigkeit und Resignation die wichtigsten Hindernisse. Das sind sehr ernste Gefahren.
Wie sehen Sie die Rolle von Professorinnen in politischen Konflikten?
Einer meiner akademischen Mentoren pflegt zu sagen, dass wir als Professorinnen und Professoren in der privilegierten Position sind, von der Regierung bezahlt zu werden, um die Regierung zu kritisieren. Das ist ein wunderbares Arbeitsumfeld. Was ich für problematisch halte, und dem versuche ich in meiner Lehrtätigkeit entgegenzuwirken, ist, dass Studierende das Recht manchmal nur als ein Werkzeug betrachten, das sie für jeden gebrauchen, der sie bezahlt.
Ich ermutige meine Studierenden, nicht aus den Augen zu verlieren, warum sie sich für das Studium der Rechtswissenschaft entschieden haben. Was sie wirklich interessiert, was ihre Vorstellung von Gerechtigkeit ist, welchen Gruppen sie helfen und welche Ziele sie verfolgen wollen. Und dass sie diese Dinge im Kopf behalten und nicht in die Falle des blinden Karrierismus tappen, dieses ganzen bedeutungslosen Vergleichens, das wir betreiben: Wer geht zur prestigeträchtigsten Kanzlei, wer wird befördert, wer hat diese Jahr wieviele Stunden abgerechnet. So etwas ist sehr destruktiv für Menschen.
Meine Bücher sind nicht nur für Juristinnen und Juristen, sondern ich versuche eine Verbindung zu Menschen zu schaffen, die das Gefühl teilen, dass unsere Demokratie und der Kapitalismus nicht funktionieren. Das kommt von meiner Haltung zur juristischen Ausbildung. Ich will meinen Studierenden nicht als bloßer Experte ohne eigenen Kopf oder eigenes Herz gegenübertreten. Damit gehe ich transparent um, ich versuche niemanden zu manipulieren. Aber ich bringe in meinen Unterricht etwas von dem mit, der ich bin. Und ich versuche, meine Studierenden zu ermutigen, dasselbe zu tun.
Natürlich gibt es auch eine Berechtigung für ein technischeres Verständnis der Arbeit von Professorinnen. Das ist wichtig, weil unsere Institutionen und Rechtskörper gut ausgearbeitet sein müssen. Aber ich glaube eben, Professorinnen sollten zusätzlich zu dieser Arbeit über die sozialen Implikationen von dem, woran sie forschen, sprechen. Deshalb versuche ich darauf aufmerksam zu machen, dass das Recht der Demokratie fürchterlich unvollständig ist, und es hier noch eine Menge zu tun gibt.
Ihre nächsten beiden Bücher heißen „The Separation of Business and State“ und „Democracy in the Twentyfirst Century“. Worum wird es darin gehen?
Die Argumentation in „The Separation of Business and State“ bezieht sich auf die Frage nach Verfassungsänderungen, um das Problem des Einflusses von Geld auf die Politik anzugehen. Ich erwähnte, dass die Bürgerrechtsbewegung gewissermaßen vorzeitig zum Erliegen gekommen ist. Es gibt einen langen Bogen des Fortschritts hin zu politischer Gleichheit unabhängig von Ethnie, Geschlecht, Religion und so weiter. Aber die Bewegung hat noch keine Gleichheit unabhängig von sozioökonomischem Status erreicht.
Ein weiterer Hintergrund des Buchs ist die Tatsache, dass liberale Demokratien selbst aus der Überwindung von Monarchie und Aristokratie hervorgegangen sind. Demokratien haben verfassungsrechtliche Elemente, die ein Wiederauferstehen solcher politischen Systeme verhindern. In den USA gibt es zum Beispiel die Trennung von Staat und Kirche. Einerseits dient diese Trennung dem Schutz der Religionsgemeinschaften vor staatlicher Einmischung und Kontrolle. Aber sie schützt auch den Staat vor religiöser Einmischung und Kontrolle.
Wir haben also die Theokratie, die Monarchie und die Aristokratie abgeschafft, aber dabei sind wir in die Hände einer konkurrierenden Machtstruktur geraten, der Plutokratie. Wir haben jetzt zwar keinen Ausverkauf der Regierung an religiöse Führer oder vererbbare Eliten mehr, aber einen Ausverkauf der Regierung an die Reichen. Und es gibt keinen strukturellen Mechanismus, um die Klassenherrschaft abzuschaffen. Deshalb schlage ich ein systematisches Verständnis der Verfassung vor, das sagt, es reicht nicht, den Einfluss von Geld auf die Politik als isoliertes Thema zu betrachten, das wir gesetzlich regeln sollten. Wir müssen ihn uns mehr als zusammenhängende und umfassende Machtstruktur vorstellen, als konkurrierende Regierungsform, als unternehmerische Aristokratie oder Religion des Kapitalismus.
Das ist beim Supreme Court passiert: Er ist völlig verblendet und begeistert von dieser Theologie des freien Marktes. Der Markt wird nicht infrage gestellt, man braucht nicht mal Beweise, ob er funktioniert, der Markt ist Gott. Es ist auf eine komische Art primitiv, der Supreme Court sucht nach einer Authorität, die klüger ist als Menschen. Und dabei übersieht er, dass auch der Markt von Menschen gesteuert wird, und zwar einer sehr kleinen Klasse von Menschen, dieser neuen finanziellen Aristokratie.
Das ist also das Verständnis dieses Buchs, dass wir eine Trennung von Wirtschaft und Staat brauchen, analog zur Trennung von Staat und Kirche und zur Gewaltenteilung, um diese Machtstruktur aufzubrechen. Das ist natürlich ein sehr großes Ziel mit Blick auf die USA. Aber mit Blick auf den Rest der Welt ist es ein sehr beschränktes Ziel. Und da kommt das zweite Buch ins Spiel.
Im zweiten Buch sage ich, der Einfluss von Geld auf die Politik nimmt in verschiedenen Demokratien sehr unterschiedliche Formen an. Es gibt verschiedene Wahlsysteme, zum Beispiel Mehrheitswahlrecht oder Verhältniswahlrecht, und viele verschiedene Ebenen, wie die EU, die UN und die WTO. Kann man in einer so komplexen Welt also wirklich Aussagen darüber treffen, wie es um die Integrität der Demokratie bestellt ist?
Ich behaupte, ja. Man kann durchaus sehr ähnliche Aussagen über die Werte und Mechanismen treffen, die der demokratischen Form auf der ganzen Welt zugrunde liegen. Demokratie nimmt oberflächlich gesehen ganz verschiedene Formen an, aber wenn man sich die historischen und verfassungsrechtlichen Traditionen und Politikverständnisse hinter diesen Formen ansieht, gibt es einen Kern von gemeinsamen Zielen. Im Kern sind das die Grundwerte von Freiheit, Gleichheit und Selbstverwaltung für alle Menschen. Im zweiten Buch untersuche ich, wie die Globalisierung des Kapitalismus und Neoliberalismus und die systemische Korruption so viele Länder von den ursprünglichen Versprechen der Demokratie entfernt haben, an die ihre Bevölkerungen bis heute glauben.
Eine gute Nachricht ist, dass es eine Menge prominenter Unterstützung für demokratische Reformen gibt. Der UN-Bericht über die menschliche Entwicklung betont die Verflechtung von wirtschaftlicher und politischer Macht und sagt, wenn wir die Ungleichheit in den Ländern der Welt angehen wollen, müssen wir die Konzentration von politischer Macht in den Händen der Wirtschaft ins Auge fassen. Mainstream-Organisationen wie der Economist unterstützen diese Forderungen. Transparency International spricht sich für Wahlkampffinanzierungsreform aus. All diese Organisationen empfehlen ziemlich übereinstimmend Maßnahmen wie Spendenlimits, mehr Transparenz, die Abschaffung von Steueroasen, öffentliche Wahlkampffinanzierung und so weiter.
Es fehlt die systematische Perspektive, dass die Demokratie, die sich nach dem Fall der Berliner Mauer auf der Welt verbreitet hat, unvollständig ist. Eine wesentliche Stufe muss in so ziemlich jeder Demokratie der Welt, für die ich Daten kenne, noch verwirklicht werden. Ich will die verschiedenen Anstrengungen aufzeigen, die in dieser Hinsicht unternommen werden, und zeigen, wo es Gemeinsamkeiten gibt. Die Länder der Welt müssen hierbei zusammenarbeiten.
Das ist auch eine Frage von Menschenrechten. Es gibt ein Menschenrecht auf eine demokratische Regierung, wenn man die verschiedenen Regelungen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte zusammen betrachtet. Das Menschenrecht auf eine demokratische Regierung muss unabhängig von Eigentum – oder in der französischen Version Vermögen, oder in der spanischen Version sozioökonomischem Status – zum Tragen kommen. Und das wird bislang einfach noch von keiner Regierung der Welt gewährleistet. Meine Hoffnung ist, Brücken zu bauen zwischen Menschen, die in verschiedenen Ländern hieran arbeiten.
Capitalism v. Democracy