Klima-Kleber vor Gericht
In einem Strafverfahren gegen ein Mitglied von Extinction Rebellion kämpfen die Beteiligten um die Deutungshoheit: Muss alles seinen gewohnten Gang gehen, oder darf es das nicht mehr?
Apokalypse und Tagesgeschäft

Die Angeklagte hat keine Verteidigung mitgebracht, und das gleich doppelt.
Zum einen sitzt keine Rechtsanwältin neben ihr, die sie heute vertreten und für sie Erklärungen abgeben kann. Und zum anderen wirkt es auf den ersten Blick auch so, als wäre das für die Angeklagte gar kein Problem, als bräuchte oder wollte sie gar keine Hilfe, denn: Sie gibt die ihr vorgeworfene Tat sofort und ohne Einwände zu.
Das wirkt souverän, es wirkt ehrlich und sympathisch, und es wird die Geldstrafe, zu der sie heute verurteilt werden wird, erheblich milder ausfallen lassen. Doch so, wie die Angeklagte die Tatsachen gesteht, widerspricht sie auf der rechtlichen Ebene.
In dem kleinen Verhandlungssaal des Amtsgerichts in der Kirchstraße in Berlin-Moabit sind an diesem Märztag 2023 die für das Publikum bereitgestellten Plätze voll besetzt. Viele sind es nicht, aber immerhin etwa ein Dutzend Leute sind zur öffentlichen Verhandlung im Strafverfahren gegen eine junge Aktivistin von Extinction Rebellion gekommen.
Die meisten von ihnen scheinen ebenfalls Aktivistinnen zu sein, auch zwei muskulöse Polizeibeamte, vielleicht Ende dreißig, sind da. Ob sie dienstlich oder aus persönlichem Interesse hier sind, frage ich den einen. Aus persönlichem Interesse, antwortet er mit ziemlich solidem Pokerface.
Ich frage nicht weiter und habe danach keine Ahnung, wie er zu den Klimaprotesten steht. Es kommt mir zumindest möglich vor, dass er die Blockaden nachvollziehen kann. Vielleicht hat er ja Kinder.
Die Atmosphäre im Gerichtssaal ist respektvoll und betont ruhig. Bei den Klebeaktionen auf Berliner Straßen wird mitunter gepöbelt, aber hier wird heute keiner laut, niemand beschimpft die Angeklagte oder sonst irgendwen.
Die Aura des Richters tendiert mehr zur Milde als zur Strenge: Nicht bedrohlich, eher hilfsbereit und verständnisvoll, irgendwo zwischen dem Vater aus American Pie und dem aus Call Me By Your Name. Er sieht die Angeklagte direkt an, fragt sie offen, lässt sie aussprechen, erklärt ihr das Prozedere. Er scheint es nicht nötig zu haben, sie allzu sehr spüren zu lassen, wer hier das Sagen hat.
Da die Tat – eine Sitzblockade auf einer Berliner Brücke mithilfe von Sekundenkleber und einer künstlerischen 1,5-Grad-Holzkonstruktion – feststeht, geht es jetzt nur noch darum, wie sie rechtlich zu bewerten ist. Der Anklagevorwurf lautet nach § 113 Strafgesetzbuch: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte.
Diese Vorschrift setzt voraus, dass den Beamten „mit Gewalt“ Widerstand geleistet worden ist. Als „Gewalt“ zählen die Strafgerichte es auch, wenn sich jemand gegen eine Diensthandlung – hier das Wegtragen von der Straße – wehrt, indem er oder sie sich zum Beispiel mit großem Krafteinsatz festhält. Den Krafteinsatz leistete in diesem Fall aber nur der zum Festkleben benutzte Sekundenkleber, der wiederum mittels Speiseöl gut zu lösen ist.
Die Angeklagte befragt die beiden Polizistinnen, die die Blockade aufgelöst haben. Bedroht gefühlt hätten sie sich nicht, als gewalttätig haben sie die Stimmung auch nicht in Erinnerung. Es habe lediglich gedauert, bis man die Aktivistinnen mit dem Öl gelöst und davongetragen habe. Hier von gewaltsamem Widerstand zu sprechen, ist unangebracht, das arbeitet die Angeklagte heraus. Den Richter beeindruckt sie damit nicht.
Außerdem ist die Angeklagte der Meinung, ihr Verhalten sei nach § 34 Strafgesetzbuch wegen Notstands gerechtfertigt. Sie muss dafür versucht haben, eine „gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr“ abzuwehren. § 34 funktioniert grob gesagt so ähnlich wie Notwehr, nur bei Naturkatastrophen oder anderen Gefahren.
Die Hürden dafür sind hoch. Dass eine Straßenblockade der einzige Weg sei, Treibhausgasemissionen zu verringern, ist nicht leicht zu argumentieren. Insofern hat der Richter eigentlich leichtes Spiel, als er auch jetzt die Einwände der Angeklagten beiseite wischt.
Interessanterweise gerät er an dieser Stelle aber ins Schwimmen. Er sagt, man habe hier nicht die Ressourcen, um festzustellen, ob eine solche gegenwärtige Gefahr in Form der Erderhitzung überhaupt vorliege. Natürlich ist das rechtsstaatlich bedenklich. Wenn das Gericht meint, eine Gefahr liege nicht vor, muss es einen Sachverständigen hinzuziehen, der das belegt, oder sich zumindest mit der Argumentation der Angeklagten auseinandersetzen. Einfach behaupten, das wäre zu viel Arbeit, ist nicht in Ordnung.
Der Richter fährt fort, man müsse alle Straßenblockaden rechtlich gleich bewerten, es könne für Klimaaktivistinnen keine Privilegien geben. Er dürfe sich nicht anmaßen, ihre Anliegen anders zu behandeln als etwa die von Zeugen Jehovas, die meinten, Gott diktiere einen Verkehrsstopp.
Dieser flüchtige Moment offenbart ein Verhalten, dass in Diskussionen über Klimapolitik bis vor kurzem ganz prägend war und auch heute noch nicht verschwunden ist: Wissenschaftliche Evidenz, die Klimaaktivismus und religiöse Sekten so klar voneinander trennt, achtlos oder absichtlich unter den Tisch fallen zu lassen.
All diese Punkte erwähnt der Richter nur beiläufig, er braucht sie nicht, um sein Urteil auf sie zu stützen. Er lässt sich nicht auf das Plädoyer der Angeklagten ein, dass er sich auch anders entscheiden könne, dass es auch gute Argumente gegen eine Verurteilung gäbe und er hier und heute Verantwortung übernehmen könnte angesichts der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen.
Man erreiche mit dem Straßenprotest heute niemanden mehr, sagt er nach der Urteilsverkündung, niemand würde heute noch davon aufgerüttelt. Die Angeklagten und ihre Verbündeten sollten sich auf anderen Wegen um einen öffentlichen Konsens bemühen.
Er sei jetzt fast 60 Jahre alt, seit 30 Jahren hier am Gericht. Dass die Welt untergehen würde, wenn man ihren Forderungen nicht nachgehe, das hätten schon viele gesagt.
Ganz unabhängig von der taktischen Frage, wie man effektiv Mehrheiten erzeugt, wird hier deutlich: Der Richter scheint durch die Klimakatastrophe noch immer nicht ernsthaft beunruhigt. Sie wird weiterhin behandelt wie eine Krise unter den vielen, die Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts schon durchgemacht haben.
Zumindest in diesem Punkt spielt die Zeit für die Aktivistinnen. Ob ihnen das für ihre zukünftigen Strafverfahren nützen wird, ist eine andere Frage.
Eins der Gebäude des Amtsgerichts Tiergarten in Berlin / Fridolin freudenfett, Creative Commons