Erfahrungen an der Neuen Schule Hamburg
In einer Villa am Hamburger Stadtrand gehen circa 80 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 16 Jahren zur Schule. Es gibt keine Unterrichtsstunden und keine Zeugnisse. Stattdessen findet wöchentlich eine demokratische Schulversammlung statt, auf der alle Kinder und Erwachsenen gleichberechtigt Anträge vorbringen und über sie abstimmen können. Ein von der Schulgemeinschaft gewähltes Lösungskomitee (LK) aus Schülerinnen und einer Mitarbeiterin berät über Konflikte und Regelverstöße und beschließt wenn nötig Konsequenzen. Wir sind an der Neuen Schule Hamburg (NSH). Hier verbringe ich im Herbst 2019 zwei Monate als Praktikant. Mein Ziel: Herauszufinden, wie Kinder mündige Menschen werden und wie wir sie dabei begleiten können.
Bildung in Freiheit

Im Labor mit Milan und Kai: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung
Wir betreten zu dritt das kleine quadratisch geschnittene Labor im ersten Stock, uns umgeben Geräte, Vorratsschränke und Hinweisschilder. Milan will einen Laborführerschein machen, damit er sich hier alleine aufhalten und die ungefährlichen Geräte benutzen darf. Kai ist als Labor-Teammitglied dabei, das schon erfahrener ist und den Führerschein ausstellen kann.
Wir gehen die einzelnen Punkte aus dem Regelkatalog durch und ich versuche, das Ganze mit ein paar spielerischen Beispielen lebendig zu halten, denn Milan ist erst sechs und hat ein gutes Gefühl dafür, wenn Dinge langweilig sind.
Und in der Tat, irgendwann wird es ihm tatsächlich zu trocken. Milan reibt sich die Augen und legt das Kinn auf die Unterarme, er sieht niedergeschlagen aus. „Ich glaub, ich brauch eine Pause“, seufzt er.
Kurz bin ich unsicher: Der Regelkatalog ist nicht mehr allzu lang und es wäre sicher ein Erfolgserlebnis für Milan, die Formalitäten hinter sich zu bringen und endlich Mitglied des Laborteams zu werden. Andererseits wird an der NSH großer Wert darauf gelegt, die Kinder zu nichts zu drängen. Sie suchen sich selbst aus, womit sie sich beschäftigen möchten und wann sie es wieder sein lassen. Ihm jetzt das Gefühl zu geben, er müsse gegen seine Müdigkeit ankämpfen und unbedingt weitermachen, könnte dafür sorgen, dass Milan das Labor für einige Zeit nicht mehr betreten wird. Deshalb entscheide ich mich dagegen, ihn zum Weitermachen zu motivieren, wir räumen die Regelliste weg und die beiden Jungs trollen sich.
Dieser antiklimaktische Moment hat mich sehr beeindruckt. Ungewöhnlich klar hat mir ein Sechsjähriger vermittelt, dass die Grenzen seiner Konzentrationsfähigkeit erreicht sind und er sich für den Moment etwas anderem zuwenden möchte. In seiner kurzen Zeit an der NSH hat er ein Gefühl dafür entwickelt, in welcher Situation er sich einer Tätigkeit effektiv widmen kann, und kommuniziert offen, wenn das nicht mehr der Fall ist, anstatt mit schlechter Laune oder Resignation zu reagieren. Er kann das, weil er das hier darf. So wird ihm die Möglichkeit gegeben, ganz bei der Sache zu sein, was auch immer er tut.
LK mit Lia: Konfliktlösung auf Augenhöhe
Ein paar Minuten vor Beginn der Verhandlung finde ich mich im LK-Raum ein. Vor dem großen Fenster steht ein Tisch, an dem die Mitglieder des Lösungskomitees sitzen, die gleich Zeugen befragen und bei Bedarf auch entsprechende Konsequenzen beschließen werden. Polstersofas an den anderen Wänden zeugen davon, dass dies für den Rest des Tages ein Spielzimmer ist, und mildern den Geist der Ernsthaftigkeit, der den Raum jeden Tag um elf Uhr für die Dauer der Sitzungen erfüllt. Ein Mitarbeiter ist stets im LK dabei, der Rest sind Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen.
Der Fall, der heute verhandelt wird, ist ernst: Es wurde Geld aus einem Portemonnaie entwendet. Verdächtigt wird die sechsjährige Lia, die jede Schuld von sich weist. Es handele sich um einen Irrtum, erklärt sie, und dass ihr kein Geldbeutel aufgefallen sei.
Die Vorsitzenden beweisen eine Menge Geduld, indem sie ruhig und immer wieder nachfragen, ob Lia nicht doch etwas gesehen oder vielleicht auch nur ein kleines bisschen Geld genommen hat. Erfolglos versucht diese, dem Druck des Verhörs zu entfliehen, indem sie rastlos auf den Stühlen und Sofas herumklettert oder den Kopf zwischen die Polster gräbt.
Schließlich gibt sie zu, dass sie das Geld genommen hat. Sie hat das Portemonnaie auf dem Boden herumliegen sehen und eine 2-Euro-Münze eingesteckt, um mit den anderen Kindern über die Straße zu Penny zu gehen. Dort hat sie zwei Minidonuts und einen Sterndonut gekauft, erinnert sie sich, für 1,25 Euro. Das Wechselgeld hat sie ins Portemonnaie zurückgelegt.
Natürlich war das nicht in Ordnung, und es wurde entschieden, dass Lia die Summe erstatten muss. Wir haben aber im Laufe des Gesprächs herausgefunden, dass sie nicht das Ziel hatte, andere zu schädigen. Das LK hat klargestellt, dass – auch wenn es auf dem Boden herumliegt und um sich selbst etwas zu essen zu kaufen – fremdes Geld nicht genommen werden darf. Im intensiven Austausch mit den Konfliktparteien sind die Regeln der Gemeinschaft deutlicher herausgearbeitet worden, als wenn eine pauschale Strafe ausgesprochen worden wäre. Dabei ist das hinter dem Regelverstoß liegende Bedürfnis, Teil der Ausflüge zum Supermarkt zu sein, erkannt worden, ohne die „Täterin“ bloßzustellen und zu erniedrigen. So wird ein menschlicher Rechtsstaat im Kleinen gelebt.
Stefans Traumberuf: Intrinsische Motivation
Auf der Treppe begegne ich Stefan, einem der älteren Schüler. Er erzählt mir, dass er müde sei, er habe heute Morgen schon um sechs Uhr aufstehen müssen. Auf meine Nachfrage berichtet er von seinem langen Schulweg aus Bergedorf. Dann erzählt er von sich aus, dass er auch nach der Schule oft noch zwei Stunden lang mit dem Bus durch die Gegend fährt.
Zuerst begreife ich nicht, warum. Etwas besorgt frage ich mich, ob er vielleicht zuhause Probleme haben könnte, denen er auf diese Weise zu entfliehen versucht.
Aber Stefan berichtet weiter, dass er besonders die Bergziegen mag. So heißen die kurzen, wendigen Busse, die in Hamburg-Blankenese durchs Treppenviertel fahren. Sie sind vor allem bei Touristen beliebt, die sich so die Beinarbeit ersparen, wenn sie zwischen den mondänen Villen Ausblicke über die Elbe und den Hafen genießen wollen. Mir dämmert, dass es ihm ein Vergnügen ist, sich täglich durch die Straßen seiner Heimatstadt fahren zu lassen, auf die ihre Einwohner so stolz sind.
Sein Lieblingsberuf, bestätigt Stefan, wäre Busfahrer. Vielleicht eine Linie oder auch für Reisegruppen. Und plötzlich kann ich ihn mir lebhaft vorstellen, die Ruhe in Person, wie er die Menschen durch seine liebsten Gegenden lenkt und dabei immer noch eine neue Anekdote über diesen oder jenen Ort übrig hat.
Ich glaube, dieses Gespräch hätte ich an einer Regelschule nicht erlebt. Nicht, dass dort niemand einen Traumberuf hätte. Aber zumindest auf meinem Gymnasium fällt mir niemand ein, der erzählt hat, am liebsten Busfahrer werden zu wollen. Aber warum eigentlich nicht? Ich bin sicher, dass dieses Ergebnis auch damit zusammenhängt, dass uns in den Zwischentönen der Unterrichtsstunden, der Quellen und Inhalte, die uns vermittelt wurden, das Anstreben eines höheren Status als der eines Busfahrers nahegelegt wurde.
Sozialer Status, soziales Ansehen meint immer angesehen werden durch andere Menschen. Je mehr wir Kinder daran gewöhnen, dass die Bewertung durch andere ihr Bild von sich selbst, ihren Wert und den Fokus ihrer Tätigkeiten bestimmt, desto mehr werden sie sich auch daran ausrichten. Genau das passiert, wenn wir Kindern vorgeben, welche Fächer im Schulunterricht wann und wie viele Stunden die Woche auf dem Plan stehen, und wenn wir ihnen Noten für ihre Leistungen geben. Sie lernen schnell, dass es in der Schule darauf ankommt, gut bewertet zu werden. Natürlich verinnerlichen sie die Noten, die auf ihren Zeugnissen stehen. Und schlimmer noch, sie beginnen daran zu glauben, dass jemand anderes für sie entscheiden kann, was das Richtige ist. Das richtige Thema und die beste Art, sich mit ihm zu beschäftigen, um das richtige Ziel zu erreichen.
Durch diese Form von Bildung geht der Schatz der intrinsischen Motivation verloren. Denn das Verhalten beruht jetzt auf dem Ziel, einen hohen Status zu erlangen, und nicht auf dem Wunsch, den eigenen Interessen nachzugehen. Echte eigene Ziele setzen zu lernen, die auf der Kenntnis der eigenen Interessen und Fähigkeiten beruhen, ist einer der großen Vorteile einer freien Schulbildung. Es lässt sich gut beobachten, dass langfristig eine intrinsische Motivation deutlich stärker wirkt als eine extrinsische, dass sie sich weniger abnutzt und mehr Zufriedenheit schafft.
Wieviel Einflussnahme ist okay?
Freie Schulen wie die NSH halten große Stücke auf ihre Zurückhaltung im Bildungsprozess. Hier soll nicht vorgelebt werden, was erstrebenswert ist und was nicht. Die Kinder können sich alle möglichen Projekte und Kurse wünschen, aber ohne ihre Initiative wird es keine derartigen Verabredungen geben. Es ist schon nicht gern gesehen, wenn sie als freiwilliges Angebot von Mitarbeitenden beworben werden, denn dieses Nudging wird als wertende Standardsetzung empfunden und als Einschränkung der Freiheit der Kinder – ihres Rechts und ihrer Pflicht, ihre Interessen selbst zu erkunden.
Doch auch die NSH ist nicht völlig frei von proaktiven Angeboten an die Schülerinnen. Schon die Aufteilung der Räume, die Gegebenheiten des Geländes und das Erfahrungsprofil der Mitarbeitenden geben einen klaren Rahmen von Möglichkeiten vor, den die Kinder vorfinden und der ihnen physisch und unmittelbar gegenübersteht. Was dort ist, damit können sie arbeiten und das kann ihre Fantasie inspirieren.
Das ist auch berechtigt. Ein Umfeld ohne Beschäftigungsangebote und mit Mitarbeitenden, die nur reagieren, nie proaktiv die Kinder ansprechen, wäre sicher kein Ort, an dem sich Kinder gut entwickeln können. Junge Menschen haben eine große Fantasie und Potenziale für enorme intrinsische Motivation, wenn man sie sich entwickeln lässt. Sie brauchen aber Einflüsse, um Erfahrungen zu machen und ihre Interessen testen zu können.
Wie kann also ein Einfluss oder eine Handlungsoption bereitgestellt werden, ohne dass die Wertung mitschwingt, dass die Kinder sich damit beschäftigen sollten? Mir erscheint das in dieser Absolutheit nicht wirklich umsetzbar. Wichtig ist eher, Entscheidungen nicht mit einer wertenden Reaktion anzugreifen oder durch permanentes Infragestellen zu untergraben. Wenn ein Angebot nur als Vergrößerung der Spielräume gedacht ist und auch derart verstanden wird, kann es Entwicklungsmöglichkeiten erweitern, ohne Freiheiten zu beschneiden.
Einflüsse behindern nicht die freie Entwicklung, wenn sie von einer demokratischen Entscheidung getragen sind, anstatt von externen Autoritäten vorgegeben zu werden. Denn dann ist es eindeutig möglich und erwünscht, sich eine eigene Meinung zu bilden, den Status quo in Frage zu stellen und ihn wenn nötig zu ändern. Wenn das gewährleistet ist, wie zum Beispiel in der wöchentlichen Schulversammlung, kann die Gemeinschaft die Gestaltung des Schulumfelds immer wieder aushandeln, ohne dabei jemanden unterschwellig in eine bestimmte Richtung zu drängen.
Gedanken zur Übertragung auf das staatliche Schulsystem
Welchen Anspruch stellen diese Erkenntnisse an das staatliche Schulsystem?
Freie und demokratische Schulen existieren zu Recht in der privaten Schullandschaft. Sie sind aber nicht vergleichbar mit beispielsweise Fußball- oder Musikschulen, die einen bestimmten inhaltlichen Schwerpunkt setzen. Im Gegensatz zu letzteren sind die Ideen freier Erziehung und Bildung und der demokratischen Gemeinschaft an der Schule universell. Sie können allen Schülerinnen und Schülern zugutekommen, nicht nur denen mit bestimmten Interessen. Deshalb kann es nicht das Ziel sein, freien Schulen bloß ein Nischendasein neben den traditionellen zuzugestehen. Vielmehr täte das staatliche Schulsystem gut daran, sich an den Idealen freier Bildung und demokratischer Erziehung sehr viel stärker zu orientieren.
Allerdings bestehen gegen diese Veränderungen Vorbehalte. Anhänger eines altertümlichen Bildungsmodells, das sich mehr an der Vermittlung von messbarem Faktenwissen orientiert, werden sich mit der laxen Gangart und den geringen Prüfungsanforderungen schwertun. Meiner Meinung nach spielt aber noch ein anderer Umstand eine nicht zu unterschätzende Rolle: Der Widerstand der Geschädigten.
Viele Menschen wünschen sich Freiheit für ihre Kinder. Wenn ich nun während meiner Kindheit und Jugend eine sehr klassische Schulbank gedrückt habe, kann die Erinnerung an den prägenden Einfluss, den sie auf mich gehabt hat, im Kontrast zu den Idealen freier Schulen allerdings unangenehme Fragen aufwerfen: Ist mein Verständnis von Freiheit das Richtige? Bin ich zu sehr von den Bewertungen anderer abhängig? Habe ich gelernt, meine eigenen Fähigkeiten und Interessen einzuschätzen und kenne ich mich überhaupt wirklich selbst?
Der Widerstand dagegen, sich in derart elementaren Kategorien von Selbstverständnis und Selbstwertgefühl eigene Defizite einzugestehen, muss enorm sein. Die Forschung zur Theorie der kognitiven Dissonanz zeigt, zu welchen Handlungen Menschen fähig sind, um solchen Selbstzweifeln zu entfliehen. Sich einzureden, dass Dinge, die uns selbst in der Vergangenheit widerfahren sind, nicht so schlimm waren, und auch unseren Kindern gut tun würden, obwohl wir sie in Wahrheit gehasst haben, liegt durchaus im Bereich des Möglichen.
Wenn Daniel Greenberg, Gründer der Sudbury Valley School in den USA und ein prägender Theoretiker des Schulkonzepts, das auch die NSH verfolgt, in einem seiner Texte über den Unterschied zwischen freien und traditionellen Schulen von dem „angerichteten Schaden – kulturell, seelisch und geistig –, der die Leute so sehr ihrer Natur entfremdet hat“, spricht, dann hat er dabei beste Absichten. Diese brutale Bezeichnung von Menschen als Geschädigte dürfte es aber vielen unmöglich machen, die Umsetzung seines Modells zu unterstützen. Es erfordert eine Menge Selbstbewusstsein und charakterliche Festigkeit, sich selbst als derart geschädigt anzuerkennen und eine Theorie zu unterstützen, die einem das abverlangt. Ein positiveres Narrativ von den Möglichkeiten, die demokratische und freie Schulen unserer Gesellschaft bieten können, wäre da hilfreicher.
Sachverständige wie die Verfasserinnen des 16. Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung von 2020 haben die Demokratisierung der Institution Schule bereits mit Nachdruck als Baustelle benannt. Das Thema verdient auch von Seiten der breiten Bevölkerung mehr Aufmerksamkeit. Dazu müssen prägnante Botschaften vermittelt werden, die es leicht machen, sich von den Vorteilen freier Schulen zu überzeugen. Viele der Erlebnisse aus meiner Zeit an der NSH zeigen: Die Vorteile liegen auf der Hand, wenn man die Menschen kennenlernt, die dort heranwachsen.
Mehr Erlebnisse aus der NSH schildern verschiedene Beteiligte im Buch „Werden? Ich bin doch schon!“, erhältlich auf der Website der Schule.
Schulgebäude der Neuen Schule Hamburg in Rahlstedt / An-d, Wikimedia, Creative Commons