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Wanderwege und andere Traditionen

Public Footpaths gehören zu den schönsten Traditionen in der englischen Countryside. Aber können sie für eine immer noch extrem hierarchische Gesellschaft entschädigen?

Das alte England

14.3.22

von

Sprechende Veranstaltung

Das ländliche England ist von Public Footpaths durchzogen. Außerhalb der großen Stadt London wird es schnell grün; Weiden, Wälder und sanfte Hügel prägen die Landschaft. Auf Streifzügen durch diesen Teil Großbritanniens kommen die öffentlichen Wanderwege sehr gelegen.


Es geht bei den Public Footpaths nicht bloß um Feldwege durch Forste und zu schönen Hügelkuppen, erdacht und erhalten von Tourismusbehörden. Oft sind es schlichte Trampelfade, die zu gar keinem besonderen Ort führen. Die Public Footpaths sind vielmehr ein Relikt aus alten Zeiten, als es noch üblicher war, das Land tatsächlich zu Fuß zu durchqueren. Das besondere an ihnen ist, dass sie ein durch Gewohnheit etabliertes Recht der Öffentlichkeit sind, auch über private Grundstücke zu wandern, um von A nach B zu gelangen: Die Eigentümer müssen es dulden, dass Leute auf den Pfaden über ihre Ländereien laufen.


Die Fußwege gibt es teils seit dem Mittelalter. Als der Adel sich zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert einen Großteil des Bodens aneignete, beraubte er Dorfgemeinschaften auf verschiedene Weise ihrer Lebensgrundlagen. Die Commons, gemeinschaftlich genutzte und überwachte Weiden, die noch heute vielen städtischen Grünflächen ihren Namen geben, wurden mit einem Mal umzäunt und die Gemeinschaften von ihrer Nutzung ausgeschlossen. Und traditionelle Wege, die Orte miteinander verbanden, waren plötzlich jemandes Eigentum und damit nicht mehr begehbar.


Gegen die Wirkung dieser Einhegungen begehrte die Landbevölkerung durchaus auf. Sie riss Zäune nieder, kämpfte gegen Truppen der Großgrundbesitzer und für ihr Nutzungsrecht an den Commons. Und sie setzte es durch, dass traditionell etablierte Public Footpaths auch von privaten Grundeigentümern geduldet werden müssen. Bis heute treten Organisationen wie die Ramblers oder die Open Spaces Society dafür ein, dass die Wege erhalten bleiben.


Solche Footpaths sind eine gute Sache. Wirklich cool, wenn man durchs Land wandern möchte. Und es wirkt so schön widerständig und sozialistisch: Uralte öffentliche Wegerechte auf privatem Grund. Sollten wir so etwas Utopisch-Egalitäres nicht in Deutschland ebenfalls haben?


Möglicherweise sind die Leute in Großbritannien einfach geschickter, wenn es ums Aufrechterhalten von nützlichen (oder fragwürdigen) Traditionen geht. Aber vielleicht existiert ein Relikt wie die Public Footpaths auch nur, weil in England immernoch riesige Ländereien von adligen Großgrundbesitzern gehalten werden. Hier gibt es noch echten Adel.


Wie andere Länder hat das Vereinigte Königreich ein Zweikammernsystem als Parlament. Nur dass in anderen Ländern eine föderale und eine Bundeskammer gewählt wird, und in England ist es eine gewählte Kammer und das House of Lords, das nicht demokratisch gewählt wird und bis heute aus lebenslangen und teilweise dem erblichen Adel vorbehaltenen Sitzen besteht.


Wozu das gut ist, weiß eigentlich niemand. Kein Wunder, wenn sich als Ausgleich für derartige Machtkonzentration ein paar Trampelpfade erhalten konnten. Da hat es das Fußvolk den Großgrundbesitzern unterm Strich ja wirklich gezeigt. Dass man 1999 das House of Lords reformiert und zumindest hunderte unmittelbar vererbbare Parlamentssitze abgeschafft hat, kann kein Trost sein. Auch die „nur“ auf Lebenszeit verliehenen Sitze sind bei Weitem kein Garant gegen korrupte Machtstrukturen.


Für Kinder aus den 90ern wirkt Manches absurd, was noch Wirklichkeit war, kurz bevor wir geboren wurden. Weil wir in einer Welt ohne diese Dinge angefangen haben zu denken, halten wir den Zustand ohne sie für selbstverständlich und fänden es absolut inakzeptabel, uns mit ihnen abzufinden, wollte man sie jetzt (wieder) einführen. Nochmal eine Grenzmauer mitten durch Deutschland? Lächerlich.


Man darf es sich auf diesen vermeintlichen Selbstverständlichkeiten nicht zu bequem machen. Einmal, weil es Rückschritte geben kann. Die erneute Realität eines klassischen Angriffskriegs in Europa inklusive Angst vor Atombomben beweist das.


Aber nicht nur die Sicherheit des Erreichten, auch der Weg in die Zukunft wird von Bequemlichkeit verbaut. Im Rückblick auf historische Verhältnisse lässt sich leicht denken, früher waren die Dinge wohl ungerecht und heute sind sie eben gerecht. Der Eindruck täuscht, denn sie sind immer noch ungerecht. Oft fällt erst hinterher auf, wie lange eine Ungerechtigkeit sich gehalten hat, besonders wenn man nicht direkt von ihr betroffen war. Das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe in Deutschland bis 2017 war so ein Fall. Viele wussten schon vorher, dass das nicht in Ordnung ist. Zu vielen war es nicht wichtig genug, um etwas dagegen zu unternehmen. Einige haben sich bis zuletzt gesperrt.


Die Herausforderung ist, sich heute zu fragen, bei welchen Dingen wir in 10 oder 50 Jahren fassungslos darüber sein werden, dass sie sich bis ins Jahr 2022 gehalten haben. Das sind die Dinge, die sich heute ändern, die wir abschaffen müssen. Vielleicht ist es das Abholzen von Wäldern für Kohlegruben, vielleicht das Verbot der Ehe unter mehreren Partnerinnen oder die Pflicht, sich geschlechtlich einzuordnen, vielleicht sind es private Konzerne, denen unsere persönlichen Daten gehören. Mit Sicherheit ist es ein Gesellschaftssystem, dass sich gleichzeitig Demokratie nennt, und in dem buchstäblich der Adel regiert.

Public Footpath: Wanderweg in Oxfordshire, England

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