Wahlbeteiligung in Niedersachsen
Bei der niedersächsischen Landtagswahl am Sonntag haben kaum mehr als 60 Prozent aller Wahlberechtigten gewählt. Das ist zwar in der Größenordnung nichts Neues. Es ist aber auch nicht akzeptabel.
Das ist ein Desaster

Am Sonntag war Wahl in Niedersachsen, dem Bundesland, das Bremen umschließt wie kein anderes Bundesland. Die SPD hat Stimmen verloren, aber Sitze dazugewonnen (das liegt an unserem Wahlsystem), die Grünen haben ihre Sitzanzahl verdoppelt (das liegt vielleicht an der Klimakatastrophe), die FDP hat Stimmen verloren und ist aus dem Landtag geflogen (das liegt wahrscheinlich an ihr selber).
Es ist gut, dass Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) nun seine Große Koalition mit der CDU beenden und eine Koalition mit den Grünen schmieden kann, die Gespräche dazu sollen am Donnerstag beginnen.
Schlecht ist wiederum, dass die Rechtsextremen von der AfD ebenfalls die Anzahl ihrer Sitze verdoppeln konnten, über zehn Prozent der Stimmen bekommen haben und sie und die CDU jetzt die einzigen beiden Oppositionsparteien im Hannoveraner Landtag bilden. Diese Konstellation hat Potenzial für Zusammenarbeit, wo es keine geben darf.
Umso mehr fehlt – und fehlte schon im Wahlkampf – eine ernstzunehmende Opposition von links. Zwar können SPD und Grüne, die beiden linkeren Parteien im Landtag, jetzt die Mehrheit der Abgeordneten auf sich vereinen. Aber gleichzeitig ist Die Linke mit nicht mal mehr drei Prozent der Stimmen und erneut verpasstem Einzug in den Landtag weit davon entfernt, die Regierung effektiv und öffentlichkeitswirksam kontrollieren zu können.
Niedersachsen ist ein wirtschaftsgeprägtes Bundesland, dort sitzt der VW-Konzern, wird aktuell neue fossile Energieinfrastruktur in Form von LNG-Terminals in Stade und Wilhelmshaven gebaut. Gerade hier ist eine Regierung aus Parteien, die im Bund zusammen mit der FDP regieren und schon deshalb nur begrenzt progressive Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik betreiben können, keine gute Idee, wenn es keine wirksame linke Opposition gibt.
Das gilt nicht nur für den Landtag, sondern insbesondere auch für den vorpolitischen Raum, für außerparlamentarische Bewegungen und lokale Gemeinschaftsarbeit. Das komplizierte Verhältnis von Fridays for Future zu den Grünen zeigt, wie wichtig gerade der Druck von außen auf die Politik ist: Selbst die klimapolitisch progressivste Partei muss von außen immer wieder angetrieben werden. Einerseits, um ihrer Position in der Politik mehr Gehör zu verschaffen, andererseits, damit sich ihre durch politischen Pragmatismus abgeschliffenen Forderungen nicht zu weit von dem entfernen, was tatsächlich notwendig wäre.
Und es hat Folgen, wenn dieser Druck von außen nicht ausgeübt wird: Die Politik wird nicht mehr gezwungen, zu liefern, und die Menschen verlieren den Glauben daran, dass sie überhaupt liefern kann.
Während man sich noch fragt, ob die Aussicht auf eine rot-grüne Landesregierung und die Verluste bei CDU und FDP das Alarmsignal einer gestärkten AfD überwiegen und die Wahl damit insgesamt eine gute gewesen ist, fällt plötzlich auf, wie hoch die Wahlbeteiligung war: 60,3 Prozent.
Beinahe vier von zehn niedersächsischen Wahlberechtigten hielten es nicht für notwendig oder sinnvoll, am Sonntag ihre Stimme abzugeben. Das ist für eine liberale Demokratie in einer Zeit, die vor politischen Problemen und Krisen nur so zittert, ein unfassbares Armutszeugnis. Es gibt keine lebendige Demokratie in Deutschland, oder jedenfalls gibt es für fast die Hälfte der Menschen in unserem Land keine.
Diese erschreckende Tatsache wird nicht wirklich durch den Fakt entschärft, dass die 60,3 Prozent kein Tiefstwert sind: Schon 2008 und 2013 hatten jeweils unter 60 Prozent ihre Stimme abgegeben.
Anscheinend hat die Öffentlichkeit sich daran auch gewöhnt. Bei den großen Zeitungen gab es keinerlei Kommentare oder Aufhebens um die Wahlbeteiligung, wenn sie überhaupt thematisiert wurde, dann wie ein bloßer Fakt, der keiner Deutung bedarf. Einzig ein kurzer Artikel in der SZ scheint das Thema anzusprechen, verbirgt sich aber hinter einer Paywall.
Einen solchen Grad an Desillusionierung und Hoffnungslosigkeit eines großen Teils der Bevölkerung gegenüber der Politik kann sich eine Gesellschaft, die Demokratie bleiben möchte, nicht leisten. Und diese Gefühle erstarken mit einer Schwächung der vorpolitischen Organisiertheit, mit müderen, gestressteren, ärmeren Bürgerinnen, die nicht mehr in der Lage sind, auf Abgeordnete und Parteien Druck auszuüben.
Am Montagabend war ich bei einer Veranstaltung an einem Gymnasium in Berlin-Dahlem, wo sich verschiedene Jugendaustauschorganisationen vorgestellt und für die Teilnahme an ihren Programmen geworben haben. Die Lehrerin, die schulseitig die Veranstaltung begleitet hat, stand unter einigem Stress, denn sie hatte ihre kleine Tochter dabei. Sie ist mit dieser Doppelbelastung nach einem Arbeitstag bewundernswert entspannt umgegangen.
Aber wer weiß, wieviel gefehlt hätte, damit es ihr zu viel gewesen wäre? Wieviel mehr Stress sie in den letzten Wochen hätte haben müssen, damit sie die Veranstaltung abgesagt oder nur mit Mühe und schlechter Laune durchgeführt hätte? Das wären schlechtere Bedingungen gewesen, um jungen Menschen zu vermitteln, wie wertvoll ein Austausch für die internationale Verständigung und die persönliche Entwicklung sein kann.
Wenn man hinguckt, kann man an solchen Beispielen sehen, wie Stress und Resignation sich von der kleinsten auf kleine und in der Summe auf mittlere gesellschaftliche Ebenen fortsetzen. Alle Maßnahmen, die Menschen ein bisschen mehr Luft zum Atmen machen, sind deshalb sinnvoll und bitter nötig: Arbeitszeitreduzierung, mehr Beschäftigte in Bildung, Erziehung und Pflege, Unterstützung für gemeinschaftliche Organisationen und Projekte. Ohne sie sinkt unsere Wahlbeteiligung womöglich noch weiter. Und niemand regt sich darüber auf.
Leineschloss in Hannover, Sitz des Niedersächsischen Landtags / Tim Rademacher, Creative Commons