Eine kurze Bilanz
Zu Beginn des juristischen Referendariats kommt man ans Zivilgericht. Es zeigt sich schnell, welche Vorteile und welche Probleme das Richteramt mit sich bringt, und welche nicht.
Eindrücke aus dem Zivilgericht

Während der letzten Wochen durfte ich am Landgericht Berlin an Sitzungen teilnehmen, Urteilsentwürfe schreiben und eine Menge über Zivilprozessrecht lernen. Das Arbeitspensum am Gericht ist zwar hoch, allerdings ist die richterliche Unabhängigkeit eine große Errungenschaft und ein Privileg.
Für viele Menschen klingt Rechtsprechung vielleicht nach einer etwas befremdlichen und ziemlich theoretischen Tätigkeit. Ich hatte aber den Eindruck, dass am Gericht sehr praktische Probleme behandelt werden, bei denen sich die Beteiligten untereinander nicht einigen konnten.
Der Moment, der mir aus dieser Station am stärksten im Gedächtnis geblieben ist, fand aber nicht am Gericht selbst, sondern im die Station begleitenden Unterricht statt. Wir saßen mit circa fünfzehn Referendarinnen und unserem Dozenten zusammen und diskutierten Schadensersatzrecht. Was macht man im folgenden Fall:
Eine Schülerin – kurz vor dem Abitur – wird durch einen Verkehrsunfall schwer verletzt und voraussichtlich dauerhaft arbeitsunfähig bleiben. Sie sagt, sie habe Ärztin werden wollen, und verklagt die Versicherung des anderen Unfallbeteiligten auf Schadensersatz in Höhe des lebenslangen Gehalts einer Ärztin.
Nach § 252 BGB (Bürgerliches Gesetzbuch) umfasst der zu ersetzende Schaden auch den „entgangenen Gewinn“, der „nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge erwartet werden konnte“. Was ist also der gewöhnliche Lauf der Dinge in so einem Fall, was könnten Anhaltspunkte sein?
Die Schulnoten der Schülerin, wurde schnell vorgeschlagen – die NCs von Medizinstudiengängen sind berüchtigt. Auch, ob sie schon Praktika im medizinischen Umfeld absolviert hat oder zumindest einen Erste-Hilfe-Kurs.
Und dann sagte eine Kollegin, es sei doch auch relevant, ob die Eltern der Schülerin selbst Ärztinnen gewesen seien. Das sei ja hier eine statistisch bedeutsame Frage. Damit hatte sie natürlich recht. Die Linken unter meinen Co-Referendarinnen schnappten nach Luft, aber unser Dozent stimmte ihr zu.
Er quittierte mein trotziges Kopfschütteln nachsichtig mit einem Lächeln und erklärte, definitiv spiele es eine Rolle, ob die Eltern Ärztinnen oder zumindest Juristinnen seien. Auf den Einwand einer anderen Kollegin, damit würde man doch soziale Statusunterschiede und Ungleichheit aufrechterhalten, sagte er, das spiele für die Entscheidung keine Rolle. Und damit war das Thema beendet.
Kurz gesagt: Hoffentlich waren ihre Eltern Ärztinnen, dann bekommt sie ihren Schadensersatz. Falls nicht, bekommt sie ihn vielleicht nur in Höhe des Gehalts einer Arbeiterin oder was man sonst für erwartbar hält. Das nehmen wir hin, schreiben „Im Namen des Volkes“ darüber und unseren Namen darunter.
Es geht mir nicht darum, irgendeiner der hier beteiligten Personen einen individuellen Vorwurf zu machen. Wir befanden uns in einer Veranstaltung zur Berufsausbildung, und dass dort die Themen so unterrichtet werden, wie man sie im Beruf bearbeitet, ist verständlich. Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass in Fällen wie dem aus meinem Unterricht der Beruf, der Bildungsstand und die Qualifikation der Eltern eine Rolle spielen können (BGH NJW 2011, 1148 Tz. 20). Daran haben sich Richterinnen an den unteren Gerichten zu halten, und es nützt ihnen wenig, eine moralische Diskussion darüber anzufangen.
Gleichzeitig ist es fragwürdig, hier keine moralische oder zumindest politische Diskussion zu führen. Die angehenden Juristinnen, mit denen ich im Raum saß, werden gesellschaftlich überdurchschnittlich privilegierte Positionen einnehmen und mehr Macht ausüben als andere Menschen.
Wenn die juristische Tätigkeit sich tendenziell darauf beschränkt, zu sagen: Wenn es hier ein Problem gibt, dann höchstens ein politisches oder vielleicht ein sozialrechtliches, aber eben keins aus dem Schadensersatzrecht, mit dem wir uns hier konkret befassen, lernen die Juristinnen, ihre Arbeit als unpolitisch und blind gegenüber ihren konkreten sozialen Folgen zu verstehen.
Wir lernen, dass es getrennte Zuständigkeiten für Aspekte unserer hochkomplexen Gesellschaft gibt, und das hat sicherlich auch ein Stück weit seine Berechtigung. Aber es kann auch dazu verleiten, eine „Nicht mein Problem“-Einstellung gegenüber sozialer Ungerechtigkeit zu entwickeln, weil man denkt, man selbst hätte damit nicht viel zu tun.
Man kann sich leicht einreden, jemand anderes mache die Regeln und irgendjemand werde sich schon darum kümmern. Die Arbeit nimmt immer noch einen riesigen Teil unserer Lebenszeit ein, und solche Gedanken prägen uns nicht nur im Beruf, sondern als Personen.
Eine solche Haltung nicht aufkommen zu lassen und das Gefühl der Unzuständigkeit für Politisches zu stören, ist deshalb wichtig, auch im Kleinen. Das kann andere zu mehr Menschlichkeit inspirieren.
Vielleicht hätte ich es darum nicht beim Kopfschütteln belassen dürfen. Stattdessen hätte ich sagen sollen: „Ich weiß, wir lernen hier Rechtsanwendung und müssen als Juristinnen der Rechtsprechung folgen. Aber wir haben auch die Pflicht, das Recht als Menschen anzuwenden. Und wenn unser Recht den Schaden von einer Arzttochter mit gebrochenen Beinen größer findet als den einer Tochter von Arbeitslosen, der die Beine gebrochen wurden, dann finde ich, wir sollten anerkennen, dass es hier ein Problem gibt.“
Landgericht Berlin am Tegeler Weg / Andreas Praefcke, Creative Commons