Die Sollbruchstelle der Koalition
In einem Interview gegenüber der „Bild am Sonntag“ lässt SPD-Chef Lars Klingbeil unfreiwillig ein zentrales Problem der Regierung erkennen: Es wird zu wenig über Ungleichheit gesprochen.
Falscher Frieden in der Ampel

Politischen Streit gab es dieses Jahr einigen in Deutschland. Beim Streit um die Gasumlage oder die Laufzeitverlängerung der letzten Atomkraftwerke etwa beharkten sich die Ampelparteien heftig.
Es ist unklar, ob es wirklich am koalitionsinternen Streit lag, dass sich diese Woche in einer Umfrage eine Mehrheit unzufrieden mit der Arbeit jedes einzelnen Mitglieds des Bundeskabinetts zeigte. Aber zumindest veranlasste das dauernde öffentliche Streiten den SPD-Parteivorsitzenden Lars Klingbeil vor kurzem dazu, der Ampelkoalition in einem Interview mit der „Bild am Sonntag“ eine Note von 3+ auszustellen.
Ich gebe dieser Einschätzung von Klingbeil eine 5.
Falsche Harmonie verdeckt nur Probleme
Erstens, weil sie inkonsequent ist. Denn Klingbeil gibt sich überzeugt: „Ein bisschen weniger öffentlicher Streit führt auch dazu, dass Noten besser werden. [M]anche Diskussion war zu lang, zu öffentlich, zu personalisiert.“ Er kündigt aber gleichzeitig an: „Für mich steht fest: Die Verteilungsfragen werden sich noch einmal viel deutlicher stellen. […] Die Diskussion um eine gerechte Verteilung werden wir als SPD im kommenden Jahr sehr klar führen.“ Er kann nicht beides haben, weniger Streit und mehr Diskussion.
In dem Gespräch geht Klingbeil selbst nur zögerlich auf Fragen nach Steuergerechtigkeit ein. Einerseits mag es angebrachte Vorsicht sein, dass Klingbeil das Wort „Steuern“ oder gar „Steuererhöhungen“ in einem Interview mit einer Springer-Zeitung zu umschiffen versucht. Selbst wenn er noch so sehr darauf hinweist, dass über 95% der Bild-Leserinnen von den Steuerwünschen der SPD nichts zu befürchten hätten, riskiert er, dass gegen ihn Stimmung gemacht wird mit der Drohkulisse eines nimmersatten Staates, der uns unsere hart erarbeiteten Gehälter wegnimmt.
Andererseits ist es sein Job, genau diese Debatte trotzdem zu gewinnen. Er kann sich nicht davor drücken, zu erklären, warum wir Reichtum stärker besteuern sollten, warum das für die Menschen etwas Gutes wäre und nichts Bedrohliches. Es ist erstaunlich, dass er schlicht behauptet, „im kommenden Jahr sehr klar“ darüber diskutieren zu wollen. Als ob es dieses Jahr gerade noch ohne geht.
Die Finanzwende scheitert an der FDP
Es geht nicht ohne, und das ist das zweite Problem an Klingbeils Wunsch nach Harmonie. Man sieht das an den anderen Themen, die im Klingbeil-Interview zur Sprache kommen: Kinderarmut, Ressourcen für Bundeswehr und Ukraine, Digitalisierung und Klimapolitik.
Alles Aufgaben, die man irgendwie angehen kann, die aber in jedem Fall Geld kosten. Und da wir es uns nicht leisten können, diese Themen zu vernachlässigen, liegt es nahe, die Vermögen derjenigen in die Pflicht zu nehmen, die extrem viel haben. Da ist es unpassend, wenn man einen Koalitionspartner hat, der von Steuererhöhungen für Reiche nichts wissen will.
Die FDP ist dafür verantwortlich, dass eine Finanzwende oder eine gerechtere Steuerpolitik bis 2025 nicht auf der bundesdeutschen Agenda stehen wird. Diese Verantwortlichkeit muss benannt werden, so lang, so öffentlich und so personalisiert wie möglich, damit es im nächsten Bundestagswahlkampf eine ernsthafte Chance auf eine Koalition ohne einen Finanzminister Christian Lindner geben kann.
Verkehrswende: Scheitert ebenfalls an der FDP
Natürlich ist die Finanzpolitik nicht das einzige Thema, bei dem jemand dem Notwendigen im Weg steht. Im Koalitionsvertrag ist zum Beispiel ein wichtiges Reformvorhaben festgeschrieben, um die Verkehrswende praktisch umzusetzen: Eine Neufassung des Straßenverkehrsgesetzes (StVG).
§ 6 des StVG erlaubt es dem Bundesverkehrsministerium, Rechtsverordnungen zu erlassen, mit denen verschiedenste Rahmenbedingungen des Straßenverkehrs geregelt werden können. Bis heute ist aber der einzige Zweck, zu dem laut Gesetz solche Verordnungen erlassen werden dürfen, die Abwehr von Gefahren für die „Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs“. Kein Schutz für Fußgänger, kein Umwelt- oder Klimaschutz, keine zukunftsfähige Stadtplanung.
Diese Ziele sollen nun in § 6 StVG aufgenommen werden, um sinnvollere Verwaltungsentscheidungen zu ermöglichen. Das Problem ist: Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) hat bislang keine großen Anstalten gemacht, die im Koalitionsvertrag angekündigten Reformen umzusetzen.
Kürzlich hat die Verkehrsministerkonferenz der Bundesländer nochmal auf den Reformbedarf hingewiesen und etliche konkrete Änderungsvorschläge vorgelegt, unter anderem zur leichteren Einführung von Umwelt- und Busspuren sowie von Anwohnerpark- und verkehrsberuhigten Zonen. Auch bei der überfälligen Verkehrswende ist also das Muster erkennbar: Es gibt viel zu tun, es gibt gute Vorschläge, es geht nicht voran, es liegt an der FDP. Es braucht öffentlichen Druck, um diese Widerstände zu durchbrechen.
Wieviele gute Kompromisse erkaufen wir uns wirklich durch Schweigen?
Wenn man davon überzeugt ist, dass es gute Gründe gibt, ein Vorhaben umzusetzen, muss man mehr Debatten in der Öffentlichkeit darüber führen. Es ist langfristig eine gefährliche Rechnung, zu hoffen, dass Appeasement gegenüber der FDP bessere Ergebnisse bringt als eine klare verbale Kante, weil sie sonst beleidigt die Koalition platzen lässt und man dann gar nichts mehr umsetzen kann.
Wenn zum Beispiel die Frage einer Vermögensteuer bei der nächsten Bundestagswahl 2025 wieder ernsthaft auf den Tisch soll, kann sie am glaubwürdigsten vertreten, wer schon dieses und nächstes Jahr davon gesprochen hat, und nicht erst überübernächstes. Es bleibt zu hoffen, dass Lars Klingbeil die Ankündigung, im nächsten Jahr über Verteilungsfragen diskutieren zu wollen, ernster nimmt als seinen Wunsch, dass es weniger öffentlichen Streit in seiner Koalition gibt.
Denn was hat er zu verlieren? Ja, es wurden dieses Jahr unter der Ampel sozialpolitische Fortschritte gemacht. Das Wohngeld und das Kindergeld wurden erhöht.
Andererseits ist aus der großen Reform, die Hartz 4 in Bürgergeld verwandeln soll, kaum mehr als ein Inflationsausgleich geworden. Und ansonsten hat der Staat 2022 hauptsächlich eine Menge Geld ausgegeben, um Militär und fossile Energie zu finanzieren, weil es im Moment nicht anders geht. Das wäre mit der FDP auch zu machen gewesen, wenn man nebenbei ein bisschen mehr über sozialen Ausgleich gestritten hätte – nicht nur über Sozialleistungen, sondern auch und gerade über Steuern.
Am Ende läuft es auf ein öffentliches Blamegame hinaus, wenn man sich nicht einigen kann. Und bei all den aktuellen Krisen ist es eine Überlegung wert, ob nicht der Punkt erreicht ist, wo man dieses Blamegame häufiger gewinnt als verliert. Vielleicht holt man mit einer klareren Haltung auch einen Teil der Riesenmenge an Leuten zurück, die sich von der Politik keine Besserung mehr erhoffen.
Über Ungleichheit reden – Berufspolitikerinnen voran
Ungleichheit ist die Sollbruchstelle der Ampelkoalition, sie war es von Anfang an. Das Schweigen der prominentesten Politikerinnen des Landes über dieses Thema dämpft die mediale Debatte und auch private Gespräche über Gerechtigkeit.
Das ist ein Problem, weil der obszöne Gegensatz von Armut und Reichtum in unserer Gesellschaft schwer zu ertragen ist, wenn man sich mit ihm wirklich auseinandersetzt. Diese Auseinandersetzung muss von den linken Parteien vorgelebt werden. Besser heute als morgen.
Vermögensverteilung in Deutschland 2018, nach Albers/Bartels/Schularick 2020