Nominierung der CDU-Bundestagsvizepräsidentin
Eine Abstimmung mit offenem Ausgang innerhalb der Unions-Bundestagsfraktion schwankt zwischen Selbstverständlichkeit und drohender Gefahr mit Nachrichtenwert. Diesen Umstand sollte die Berichterstattung nicht normalisieren, indem sie von einer „Kampfabstimmung“ spricht.
Hilfe, eine Abstimmung

Nach der Wahl im September werden aktuell einige Posten im Bundestag neu besetzt. Die SPD wird als stärkste Kraft die Bundestagspräsidentin stellen, alle anderen Parteien können eine Vizepräsidentin vorschlagen. Mehrere Kandidatinnen aus der CDU haben ihr Interesse bekundet und – oh Schreck – machen bislang keine Anstalten, zurückzuziehen.
Der Spiegel schreibt dazu: „[E]s droht eine Kampfabstimmung“. Es droht eine Kampfabstimmung? Das klingt dramatisch. Eine Kampfabstimmung scheint jedenfalls etwas anderes als eine normale Abstimmung zu sein.
Michael Grosse-Brömer, Monika Grütters und Annette Widmann-Mauz wollen alle drei kandidieren. „Sollte bis zur Entscheidung in der kommenden Woche keine einvernehmliche Lösung gefunden werden, sei auch eine Abstimmung in der Unionsfraktion möglich. Offenbar gibt es bereits Versuche, ein solches Szenario zu verhindern“, schreibt der Spiegel. Wäre ja noch schöner, wenn man über eine Kandidatin abstimmt.
Laut Wikipedia dient eine Abstimmung der „Entscheidungsfindung und Beschlussfassung“. Der besondere Fall einer Kampfabstimmung liegt dann vor, wenn mehrere Wahloptionen zur Auswahl stehen, die eine realistische Chance auf Erfolg haben.
Ist es sinnvoll, so zu sprechen? Welches Bild der Realität und Demokratie bauen wir uns da? Beim Spiegel-Artikel bekommt man das Gefühl: Eine Kampfabstimmung ist weder normal noch gut. Nein, sie „droht“, und die Unionsfraktion versucht sie zu verhindern. Daran zeigt sich, dass es hier nicht um ein beliebiges Wort geht, sondern die negative Konnotation ein Teil des Versuchs ist, das Phänomen zu unterdrücken. Eine simple Taktik: Spricht man zum Beispiel von „Zwangsgebühren“ anstatt von Rundfunkbeiträgen, klingen die Rufe nach ihrer Abschaffung schon viel überzeugender.
Eine Wahl mit mehreren Optionen, Kernelement unserer Demokratie, wird zum Ausnahmefall erklärt. Sie wirkt auf einmal wie ein unzivilisierter „Kampf“, wie eine gewalttätige, unprofessionelle Methode, die einer staatstragenden Partei nicht würdig ist. Der Wert innerparteilicher Einigkeit wird dabei überschätzt, die Nachteile des Ignorierens und Verschweigens von Konflikten werden ausgeblendet.
Aber, innerparteiliche Einigkeit ist doch ein zentraler Erfolgsfaktor, könnte man denken. Die Union ist nach dem Gekeile zwischen Markus Söder und Armin Laschet um die Kanzlerkandidatur schließlich dramatisch abgestürzt, die auf Linie gehaltene SPD um Olaf Scholz konnte sich erholen. Vielleicht lag das aber gar nicht an dem Fakt, dass mit Laschet und Söder zwei Leute Ambitionen auf die Kandidatur hatten. Sondern an der Art, wie sie mit diesem Konflikt umgegangen sind, an ihrem taktischen Ausnutzen der Unklarheit, ob letztlich Partei, Fraktion oder Öffentlichkeit bestimmen soll, anstatt einfach nach einem bestimmten Verfahren eine Entscheidung herbeizuführen und diese dann auch zu akzeptieren. Oder die Korruption und Profitgier in der Union im Zusammenhang mit der Covid-Pandemie waren einfach mehr, als die deutschen Wählerinnen in einem Wahljahr zu verzeihen bereit sind – Kevin Kühnert schien das jedenfalls für relevant zu halten, wie man hier sieht (Minute 12:04).
Je mehr wir ein Phänomen, für das es ein bestimmtes Wort gibt, in ein Spezialwort auslagern, verändert sich auch das Rumpfwort, das wir dafür nicht mehr benutzen. Was am Ende in unseren Köpfen für den „normalen“ Abstimmungsbegriff übrig bleibt, unbefleckt vom kriegerischen Zusatz, der eigentlich nur eine echte Auswahl meint, sind all die Abstimmungen, deren Ergebnis schon von vornherein feststeht. Im Extremfall bilden bloß formale Beschlüsse von Entscheidungen, die längst in anderem Rahmen getroffen wurden, dann die Bilder und Assoziationen, die wir bei Abstimmungen im Kopf haben.
Nur weil innerparteiliche Willensbildung nach anderem Muster verläuft als eine Bundestagswahl, sollte man sich nicht in Sicherheit wiegen, dass solche Sprache für das Demokratieverständnis normaler Bürgerinnen folgenlos bleibt. Wenn im politischen Betrieb Worte zu Euphemismen werden, schwächt das langfristig das Vertrauen in unsere Demokratie. Hier bietet sich eine Gelegenheit, sich ohne das Bedienen rechter Sprach- und Denkmuster damit auseinanderzusetzen, warum Menschen von „denen da oben“ reden, die entscheiden, wie sie wollen, warum viele Menschen kein großes Vertrauen in Politikerinnen haben, warum fast jede vierte wahlberechtigte Person an der Bundestagswahl nicht teilgenommen hat.
Es sollte keine Meldung wert sein, dass es in einer Bundestagsfraktion eine Abstimmung darüber gibt, wen sie als Bundestagsvizepräsidentin nominiert. Oder hat es doch Nachrichtenwert, weil so ein Vorgehen in unserer politischen Kultur und insbesondere bei der Union eher selten ist? Der Spiegel hätte dieses Dilemma auflösen können, indem er sich den schrägen Frame einfach nicht zu eigen gemacht hätte: „In der Unionsfraktion droht eine Abstimmung“ wäre als Schlagzeile realitätsgetreu und entlarvend genug.
CDU/CSU-Bundestagsfraktion / Tobias Koch et al., Creative Commons