Verantwortung von Medien für politische Werbung
Die INSM („Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“) wurde wegen ihrer Werbekampagne gegen die Grünen berechtigterweise harsch kritisiert. Gerade von Seiten der großen Zeitungen, die die Anzeigen abgedruckt haben, ist die nötige Selbstkritik aber unterblieben. Es findet zu wenig Auseinandersetzung mit dem Einfluss von Vermögen auf die öffentliche Meinung statt.
Kassieren, drucken, ducken

Manche Menschen lieben Tankstellengeruch. Dieses süße Aroma von frischem Benzin gibt einfach einen gewissen Kick, ja vielleicht ist das der Duft, der Freiheit am nächsten kommt. Auf einer Liste von Dingen, die gefährlich für die Freiheit sind, darf also ein Verbot von Verbrennermotoren nicht nur nicht fehlen, es muss ganz oben stehen. So dachte zumindest anscheinend die Lobbyorganisation INSM, als sie kürzlich eine neue Anzeigenkampagne entwarf. Das Thema der Kampagne: Die Grünen sind eine Verbotspartei, die Deutschland mit religiösem Eifer in die Unfreiheit zu führen droht. Als Motiv entschied man sich für eine mittelmäßige Fotomontage von Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock als Mosesfigur in einem grünen Gewand mit zwei Steintafeln, auf denen „10 Verbote“ standen.
Die Anzeige wurde in großem Stil abgedruckt. FAZ, Süddeutsche Zeitung, Bild, Handelsblatt und Tagesspiegel brachten sie, teilweise im ganzseitigen Format, zusätzlich war sie online bei FAZ, SZ und Zeit prominent zu sehen. Jedoch nicht lange, denn schon am selben Tag begann es, Kritik zu hageln. Die bezog sich auf eine ganze Menge: Vom Ton der Kampagne und den unprofessionellen Angriffen auf Baerbock über die bedienten antisemitischen Stereotype bis hin zur Tatsache, dass selbst die inhaltlichen Aussagen – soweit sie konkret genug waren, dass man sich mit ihnen überhaupt sinnvoll auseinandersetzen konnte – im wesentlichen Lügen waren.
Nicht nur einzelne Menschen beschwerten sich in sozialen Netzwerken. Auch bei den Zeitungen, die die Anzeige selbst veröffentlicht hatten, konnte man von der Kritik an der INSM lesen (jedenfalls teilweise – Bild und FAZ erwähnten die Geschichte zumindest online nicht weiter, obwohl die FAZ sogar eine eigene Themenseite zur INSM führt). Bis auf ausführliche Auseinandersetzungen in der Zeit zu den antisemitischen Komponenten der Anzeige und beim Spiegel, der es abgelehnt hatte, die Kampagne zu drucken, bestanden die Artikel jedoch meist aus nicht mehr als einer fertigen dpa-Pressemitteilung, die nahezu unverändert übernommen beziehungsweise kaum ergänzt wurde.
Das ist zu wenig. Bei diesen Anzeigen waren zwei Parteien beteiligt: Die INSM als Käuferin und die Medien als Verkäuferinnen der Werbeflächen. Sicher ist die INSM hauptverantwortlich für die Inhalte, die sie schaltet. Die Zeitungen müssen sich aber mit der Rolle auseinandersetzen, die ihnen als Plattform für Anzeigen zukommt. Hier wird Reichweite gegen Geld verkauft, und das Geld ist ungleich verteilt. Es ist kein Zufall, dass so selten bei Zeit Online oder ähnlichen Medien plakative Forderungen der Pflegerinnen oder der Radfahrerinnen zu sehen sind. Jemand anderes als ein gewinnorientiertes Unternehmen oder ein Arbeitgeberverband – wie die INSM als Lobbygemeinschaft der Metall- und Elektroindustrie – kann sich so etwas meist schlicht nicht leisten.
Unser politisches System ging mal von dem Ideal aus, dass es ein Kampf um Argumente ist, der mithilfe von Wahlen eine gerechte Siegerin hervorbringt, und dass politische Konflikte durch Sachdebatten gelöst werden. In Wirklichkeit befinden wir uns auf einem ganz anderen Niveau. Zum Beispiel wollen manche Menschen wegen einiger Vorteile wie der Reduzierung von Abgasen und Verkehrstoten in Kauf nehmen, dass man auf der Autobahn nicht mehr über 130 km/h schnell fahren darf. Und andere möchten sich einer argumentativen Auseinandersetzung mit diesem Thema derart radikal entziehen, dass sie behaupten, solche Vorschläge seien „gegen jeden Menschenverstand gerichtet“. Diese „anderen“ Leute repräsentiert Andreas Scheuer, Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur. Dass er nach wie vor Mitglied der Bundesregierung ist, ist ein Armutszeugnis für die politische Kultur in Deutschland, genau wie das inhaltsleere und schamlos widersprüchliche Wahlprogramm der Union für die Bundestagswahl diesen September. Im Zentrum unseres politischen Kosmos wird die Debatte verweigert.
Stattdessen werden andere Instrumente genutzt, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Mehr als überzeugende Argumente verfangen meist emotionale Ansprache, reißerische Parolen und besonders die unablässige Wiederholung der eigenen Position mit allen Mitteln und auf allen Kanälen, die einem zur Verfügung stehen. Insbesondere bei Letzterem wirkt sich eine Ungleichheit der Ressourcen aus. Wer sich mehr Werbeflächen kaufen kann, wird sein Produkt besser verkaufen, auch wenn das Produkt „Angst vor den Grünen“ ist. Offensichtlich reicht es in so einem Umfeld nicht, darauf zu verweisen, dass ja auch Gewerkschaften Lobbyarbeit betreiben, dass ja jeder Mensch eine Stimme habe und seine Meinung immer noch frei bilden könne. Wir werden beeinflusst von dem, was uns vorgesetzt wird, gerade Zeitungen sind sich dessen bewusst. Wenn Verbände ihren Reichtum für politische Einflussnahme nutzen, dann widerspricht das der Idee von einem fairen demokratischen Wettbewerb.
Mit diesem Widerspruch wurde sich im Rahmen der Debatte über die INSM-Kampagne nicht auseinandergesetzt, vielleicht deshalb, weil man sich schon so sehr an ihn gewöhnt hat. Ein ausführlicher Artikel in der Zeit las sich stellenweise so, als ob es an der Kampagne eigentlich nichts auszusetzen gäbe, wäre sie nicht antisemitisch gewesen. Die SZ-Chefredakteurin Judith Wittwer ging in einem Statement ebenfalls bemerkenswert selbstbewusst mit der Situation um: Sie zitierte eingangs Harry Truman mit „if you can’t stand the heat, get out of the kitchen“, verwies auf die Trennung zwischen Redaktion und Verlag als „grundlegend[e] Säule der Publizistik“ und beteuerte, Inserenten dürften ihre Meinung frei äußern, rassistische Inhalte würden aber beispielsweise „nie gedruckt werden“.
Sie verharmlost die Folgen eines verrohenden politischen Betriebs, indem sie von Inhalten gelöste, unehrliche und Ressentiment schürende Kampagnen als normale und übliche Hitze des Gefechts darstellt. Auch wenn die Montage in diesem Fall kein besonderer sexistischer Affront gegen Baerbock war, sind Frauen im politischen Umfeld oft Ziel heftiger Angriffe, die zu dulden keineswegs das Ziel sein kann. Die Stimmung des Lauerns auf einen schnellen Schlag unter die Gürtellinie hat auch Paul Ziemiak, Generalsekretär der CDU, jüngst dazu geritten, mit großen Tönen den Grünen vorzuwerfen, auf ihrem Parteitag habe es antisemitische Reden gegeben. Er nahm den Vorwurf wenige Tage später zurück, ohne wirklich einen Fehler einzugestehen. So ein Ton sollte nicht normal sein, und wenn er trotzdem der Status quo ist, hilft es nicht, ihn durch Zitate wie das von Truman zu legitimieren.
Auch Wittwers Hinweis auf die Trennung von Verlag und Redaktion ist keine überzeugende Entschuldigung für das Abdrucken der INSM-Bilder. Selbstverständlich ist es wichtig, dass Anzeigenkäuferinnen keinen direkten Einfluss auf redaktionelle Inhalte bekommen, indem sie die Zeitungen von ihren Geldern abhängig machen. Das heißt aber nicht, dass die Abteilung, die die Werbeflächen verkauft, selbst alles annehmen muss, was ihr angeboten wird. T-Online und der Spiegel haben die Anzeige in diesem Fall abgelehnt. Der Anzeigenverkauf dient zur Finanzierung der Arbeit der Redaktion, am Ende kommt aber ein Gesamtprodukt heraus, was den Leserinnen als Ganzes präsentiert wird.
Wittwer behauptet, „dass die Anzeigen für die Leserinnen und Leser klar als Werbung gekennzeichnet sind und sich in Aufmachung und Schrift vom Rest der Zeitung unterscheiden“. Unter Artikeln auf sueddeutsche.de werden aber regelmäßig Artikel und Anzeigen durcheinander und abwechselnd präsentiert, deren Layouts einander durchaus ähnlich sehen - die Anzeigen sind oft in grau hinterlegt, manchmal aber auch nicht, und nutzen dieselbe Schriftart wie die Artikel. So prüft der Presserat wegen der INSM-Kampagne ein Verfahren gegen die SZ, gerade wegen der „direkte[n] Kombination“ mit redaktionellen Inhalten. Auf Zeit Online war die Schrift der INSM-Werbung die größte auf der gesamten Seite, größer noch als der Zeit-Schriftzug selbst. Die Zeitungen schweigen darüber, dass es Teil ihres Geschäftsmodells ist, Anzeigen derart prominent und gleichzeitig getarnt im Produkt unterzubringen und sich dann mit dem optimistischen bis unredlichen Verweis auf die Medienkompetenz der Leserinnen hinter einer „unabhängigen“ Anzeigensparte zu verstecken. Und mit deren vermeintlichen Standards ist es auch nicht sehr weit her, wenn zwar beteuert wird, „rassistische Inhalte würden nie gedruckt werden“, aber politische Lügen und antisemitische Zwischentöne noch durchs Sieb zu passen scheinen. Insbesondere solange es für Parteien und NGOs nicht mal eine Selbstkontrollinstanz wie den Werberat gibt, der bei Werbung für Produkte und Dienstleistungen auf gewisse Standards achtet, sind die Zeitungen hier selbst in der Pflicht.
Zeitungen sind abhängig von Anzeigengeldern, und bei einer problematischen Schmutzkampagne vor dem Hintergrund eines immer hässlicheren politischen Umfelds schweigen sie sich dazu aus, anstatt ihre eigene Rolle zu thematisieren. Mit dem unhinterfragten Abdrucken von Inhalten der Industrielobby und ihrer fehlenden Selbstkritik im Nachgang verpassen sie nicht nur die Gelegenheit, den Einfluss von Vermögen auf den Wahlkampf zu thematisieren. Sie verbauen sich auch ihr eigenes Ziel der freien und fundierten Meinungsbildung, wenn ihre Berichterstattung in Werbeflächen eingebettet wird, in denen man gegen Geld undifferenziert und ohne Ansprüche an den Wahrheitsgehalt politische Gegner diffamieren kann. Dass man beim Deutschlandfunk, also im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, durchaus Kritik an dieser Praxis lesen konnte, legt bezüglich der Anzeigenverkäufe den Finger in die Wunde.
Wessen Positionen setzen sich im Wahlkampf auf welchem Wege durch? Wie frei ist unsere Wahl, wenn wir personalisierte politische Werbung bekommen? Wieviel Einfluss kann man sich mit Geld kaufen und was macht das mit unserem politischen System und unseren Medien? Würde man diese Fragen selbstkritischer thematisieren, wären vielleicht wieder mehr Menschen bereit dazu, für journalistische Inhalte zu bezahlen, und man hätte sich das mit der INSM-Kampagne aus Zeitungssicht sparen können. Es ist eine wichtige Aufgabe der Medien als Beobachterinnen wirtschaftlicher und politischer Vorgänge, für Freiheit zu kämpfen. Zum Beispiel für die Freiheit, nicht durch Werbung manipuliert zu werden, gerade von der Industrielobby im politischen Bereich. Auf Unterstützung im Kampf für diese Art von Freiheit hofft man bei den Neoliberalen von INSM und Co. bezeichnenderweise vergeblich.
Screenshot mit INSM-Werbung auf zeit.de vom 11.06.21