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Amtsantritt der neuen Bundestagspräsidentin

Bärbel Bas (SPD) löst Wolfgang Schäuble (CDU) als neue Präsidentin des Bundestages ab. Die Reden der beiden zu diesem Anlass machen ihr unterschiedliches Politikverständnis deutlich. Eine Analyse

Schäuble zu Bas: Ein Paradigmenwechsel

30.10.21

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Sprechende Veranstaltung

„Ruhmreich ist das nicht.“ Für eine Person, deren Amt von Neutralität geprägt ist, sind diese Worte ein deutliches Statement. Dennoch hat Bärbel Bas (SPD), die neue Präsidentin des 20. Bundestags, sie direkt nach ihrer Wahl am 26. Oktober ausgesprochen. Sie wies damit darauf hin, dass sie erst die dritte Frau in ihrem Amt seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 ist, und dass dieser Fakt dem Zustand der Gleichberechtigung von Männern und Frauen in Deutschland kein gutes Zeugnis ausstellt.


An diesem Dienstag, in der ersten, konstituierenden Sitzung des neuen Bundestages, verschwimmen ein bisschen die Grenzen zwischen dem sonst eher zurückhaltenden Charakter des Amts der Bundestagspräsidentin und der parteipolitischen Überzeugung der jeweiligen Amtsinhaberin. Zum Abschied des alten Präsidenten Wolfgang Schäuble (CDU) und zum Amtsantritt der neuen Präsidentin Bärbel Bas dürfen beide eine Art Grundsatzrede halten, in der sie ihre Sicht auf die Lage des Parlaments darlegen. Da, wo die beiden sich in ihren Reden ein Stück weit aus der Deckung wagen und mehr vortragen als die üblichen rituellen Formeln, wird in Ansätzen erkennbar, was für einen Unterschied in der politischen Haltung der Regierungswechsel von der Großen zur Ampelkoalition mit sich bringen könnte.


Ablenkung von klimapolitischen Versäumnissen


Schäuble hält die Eröffnungsrede des neuen Bundestags und damit zugleich seine eigene Abschiedsrede. „Politik ist immer ein schwieriger Abwägungsprozess, ein Austarieren widerstreitender Interessen“, sagt er. Dann verdeutlicht er, was er meint, und zwar am Beispiel der Proteste gegen die Untätigkeit der Regierung bei der Klimapolitik:


„Das mitunter zähe Ringen um gesellschaftliche Mehrheiten sollten wir gerade auch denjenigen nahebringen, die mit Blick auf den Klimawandel von der Trägheit demokratischer Prozesse enttäuscht sind und sofortiges Handeln erfordern. Ihre Motive sind nachvollziehbar. Aber wissenschaftliche Erkenntnis allein ist noch keine Politik und schon gar nicht demokratische Mehrheit. Wer Ziele und Mittel absolut setzt, bringt sie gegen das demokratische Prinzip in Stellung. Übrigens kann die Wissenschaft genausowenig letzte Gewissheit liefern und in der Demokratie gibt es sowieso nicht die eine richtige Entscheidung. Und genau damit müssen wir umgehen.“


An dieser Stelle applaudieren Schäuble Abgeordnete aus den Fraktionen der CDU/CSU und der AfD. Obwohl jeder einzelne Satz aus dem Zitat für sich genommen vernünftig ist, konstruiert die Rede das Bild der Klimaproteste als Bewegung einer demokratiefeindlichen Minderheit, die politische Prozesse nicht versteht und autoritäre Wege begrüßen würde, um ihre besserwisserischen Ansichten durchzusetzen. Dieses Bild entspricht nicht der Wahrheit. Fridays for Future behauptet nicht, dass wissenschaftliche Erkenntnis Politik ist oder dass ihre Ziele „absolut gesetzt“ werden sollten. Vielmehr beauftragen sie Machbarkeitsstudien, sich sich eingehend mit möglichen Umsetzungen der notwendigen klimapolitischen Anpassungen unserer Wirtschaftsweise auseinandersetzen.


Mit seinen Belehrungen über die demokratischen Grenzen für die Ambitionen junger Klimafreundinnen lenkt Schäuble von den Versäumnissen seiner eigenen Partei ab. „Wissenschaftliche Erkenntnis ist schon gar nicht demokratische Mehrheit“, sagt er, und will damit deutlich machen, dass es manchmal eben keine Mehrheit für etwas gibt und der Politik deshalb ein Stück weit die Hände gebunden seien. In Wahrheit wird für Abgeordnete das Ringen um Mehrheiten aber vor allem im Wahljahr relevant. In der Zwischenzeit sitzen sie sicher im Bundestag und sind nur ihrem Gewissen unterworfen.


Abgeordnete sind in der Pflicht


Der Union wäre es durchaus möglich gewesen, in den letzten Jahren bei der Klimapolitik mehr Tempo zu machen. Dazu hätte sie die Kraft gebraucht, während der laufenden Legislaturperiode sinnvolle Veränderungen einzuleiten und sie ihren Wählerinnen zu erklären, anstatt sie mit ihrem realitätsfernen Widerwillen in Ruhe zu lassen. Wenn man seinen Markenkern als Partei im Konservatismus sieht, läuft man zwangsläufig Gefahr, den Widerstand von Menschen auch gegen sinnvolle und unumgängliche Veränderungen zu unkritisch zu tolerieren. Daran krankt die Politik der Union, nicht nur, aber ganz besonders bei der Klimapolitik.


Schäuble schiebt dann noch hinterher, es gäbe in der Demokratie „sowieso nicht die eine richtige Entscheidung“, eine schwache Entschuldigung, wenn die eigene Fraktion schlechte Entscheidungen getroffen hat. Denn zwischen den Forderungen von Fridays for Future und der Politik der Union hätte es eine Menge Raum für mögliche Verbesserungen gegeben.


Vor ein paar Wochen wurde ein neuer Bundestag gewählt, der jetzt für vier Jahre die deutsche Politik mitbestimmt. In der Zwischenzeit muss er jetzt zuallererst sich selbst überzeugen, wenn er zukunftsfähige Politik machen will. Bis zur nächsten Bundestagswahl ist es Aufgabe und Recht der Abgeordneten, das zu tun, was sie für richtig halten. Umgekehrt heißt das, wenn sie nicht handeln, dann nicht, weil sie nicht können, sondern weil sie nicht wollen. Es ist berechtigt, dass sich junge Menschen darüber bei der Politik beschweren und nicht warten, bis die absolute Mehrheit der Wählerinnen ebenfalls ihrer Meinung sind.


Der Unmut, sich bei gesetzgeberischen Tätigkeiten oder eben Untätigkeiten von außen reinreden zu lassen, zeigt sich auch bei einer Äußerung Schäubles zur Gerichtsbarkeit: „[Es liegt] an uns, wie weit wir unsere Gestaltungsspielräume als Gesetzgeber einengen lassen durch eine Rechtsprechung, die bisweilen mindestens an die Grenzen ihres Mandats geht.“ Erneut bekommt er dafür Applaus von der CDU/CSU- und von der AfD-Fraktion.


Ganz anders äußert sich dagegen Bärbel Bas, die zwei Stunden später ihre eigene Amtsantrittsrede nutzt, um ihren Blick auf die Klimapolitik zu präsentieren:


„[V]iele große, strittige Themen liegen vor uns. Der Klimawandel, besonders der Umbau der Wirtschaft mit dem Ziel, Klimaneutralität zu erreichen. Nachhaltige Entscheidungen erwarten gerade die jungen Menschen in unserem Land von uns, und das Bundesverfassungsgericht hat ihnen Recht gegeben. Wir entscheiden eben gerade nicht nur für unsere Generation, sondern auch für die kommenden Generationen.“


Das Bewusstsein für die Dringlichkeit einer ernsthafteren Klimapolitik tritt in Bas’ Rede zumindest etwas deutlicher hervor. Innerhalb der SPD scheint man sich leichter damit abfinden zu können als in der Union, dass das Bundesverfassungsgericht das Klimaschutzgesetz der Großen Koalition als unzureichend kritisiert hat. Schäuble bezeichnet die Motive der Klimaprotestierenden bloß als „nachvollziehbar“. Und das ist zwar einerseits in hohem Maße richtig, andererseits ist es eben Teil des Problems, dass die Politik hier immer noch eine nur nachvollziehende Rolle einnimmt. Die Klimakatastrophe ist real. Es ist an der Zeit, dass die deutsche Bundesregierung die Sorge um das Weltklima nicht nur mit Vorbehalten „nachvollzieht“, sondern aktiv zu einem Kernelement ihres Handelns macht.


Verschiedene Ansichten zu Vielfalt im Parlament


Auch bei einem zweiten Thema erkennt man Unterschiede: Sowohl Schäuble als auch Bas äußern sich zur Repräsentation gesellschaftlicher Gruppen durch ihre Angehörigen im Parlament. Bas würdigt die Vielfalt der Lebensgeschichten der neu gewählten Abgeordneten:


„[D]ieses Parlament [ist] besonders vielfältig, das war bei der Verlesung der Namen unserer Schriftführer vorhin deutlich zu hören. [D]as tut unserem Land gut. Die Zusammensetzung des 20. Deutschen Bundestages zeigt, dass seine Mitglieder in ganz verschiedenen Teilen der Gesellschaft verwurzelt sind. Sie bringen unterschiedliche Berufserfahrungen und Herkunftsgeschichten mit, ihre Lebensläufe und Lebenswege werden unsere Debatten bereichern. Die Vielfalt ist eine Chance für uns alle. In diesem Haus, aber auch außerhalb.“


Auch Schäuble berührt das Thema in seiner Rede, aber aus einer ganz anderen Perspektive:


„Verwechseln wir nicht Repräsentation mit Repräsentativität. Jeder einzelne von uns bildet nicht einfach einen Teil des Volkes ab. Artikel 38 [Grundgesetz – Anmerkung von mir] ist eindeutig: Abgeordnete – jeder Abgeordnete – sind Vertreter des ganzen Volkes. Auch wenn sich natürlich die gewachsene Vielfalt unserer Gesellschaft in der Volksvertretung wiederfinden soll, der Bundestag wird nie ein exaktes Spiegelbild der Bevölkerung sein. Und wer Repräsentation mit Repräsentativität gleichsetzt, wird eine Fülle eklatanter Abweichungen finden […]. Und er leistet dem irrigen Verständnis Vorschub, dass gesellschaftliche Gruppen nur durch ihre eigenen Angehörigen vertreten werden könnten. Aber bei wem wollen wir dann anfangen? Und wo endet das? Ein Parlament, das im Übrigen zwar die Vielfalt abbildet, aber darüber keine Mehrheiten schaffen kann, ist eben kein Parlament. Unsere repräsentative Demokratie beruht auf der politischen Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger, ohne Rücksicht auf ihre soziokulturellen Merkmale.“


Wiederum sind die meisten seiner Sätze einzeln betrachtet nicht sehr kontrovers, im Kontext der ganzen Aussage offenbart sich darin aber eine bemerkenswerte Missachtung der Probleme parlamentarischer Unterrepräsentation. Repräsentativität ist kein Allheilmittel. Idealerweise bräuchte es sicher keine Abgeordneten, die den soziokulturellen Merkmalen einer Wählerin vollkommen entsprechen, damit sie ihre Interessen berücksichtigen. Es ist vielmehr wichtig, dass Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen im Bundestag für Themen eintreten können, die mit ihrer Gruppenzugehörigkeit überhaupt nichts zu tun haben, damit Stereotype abgebaut werden können. Man darf aber die Tatsache, dass sich Menschen in Machtpositionen oft denjenigen gegenüber erkenntlich zeigen, die sie als sich selbst ähnlich wahrnehmen, nicht einfach verschweigen, nur weil das im Grundgesetz so nicht vorgesehen ist.


Es bleibt viel zu tun


Wenn Menschen Quoten oder einfach nur mehr Teilhabe für bestimmte Gruppen fordern, und man ihnen dann unterstellt, dass sie denken, sie könnten nur durch ihre eigenen Angehörigen vertreten werden, verschweigt man eine entscheidende Tatsache: Sie müssten diese Forderungen nicht erheben, wenn die Repräsentation vorher einwandfrei funktioniert hätte. Schäuble unterschlägt diese unangenehme Lehre der Vergangenheit, und schürt stattdessen Ängste davor, wo das denn enden solle. Die Antwort lautet: Das muss demokratisch ausgehandelt werden, durch genau das „Austarieren widerstreitender Interessen“, das Schäuble selbst an der Politik so schätzt. Aber jedenfalls endet es nicht da, wo wir jetzt stehen, mit einem Bundestag mit geringerem Frauenanteil als 2013 und einem nicht mal halb so hohen Anteil von Abgeordneten mit Migrationsgeschichte wie in Deutschland insgesamt. Dass Schäuble ohne Erklärung suggeriert, ein Parlament, das sich um mehr Vielfalt bemüht, wäre aus irgendeinem Grund nicht in der Lage, Mehrheiten zu schaffen, unterstreicht nur sein unkonstruktives Verhältnis zu diesem Thema.


Schäuble und Bas sind als Präsidentinnen des Bundestags im parlamentarischen Tagesgeschäft zur Neutralität verpflichtet und deshalb keine politischen Wortführerinnen ihrer Fraktionen. Nichtsdestotrotz sind sie Abgeordnete ihrer jeweiligen Parteien, und ihre Positionen lassen Rückschlüsse auf die Parteilinie zu. Dass sie zu einem eher feierlichen Anlass proaktiv derart unterschiedliche Aussagen zu politischen Themen tätigen, zeigt, welch unterschiedliche politische Kultur SPD und Union ausmacht. Es ist gut, dass diese Unterschiede nicht noch vier weitere Jahre unter den Teppich einer Großen Koalition gekehrt werden. Zu hoffen bleibt, dass den progressiven Worten der neuen Bundestagspräsidentin auch Taten aus der neuen Bundesregierung der Ampelkoalition folgen.

Berliner Regierungsviertel / Knut Penning

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