Zu Stuckrad-Barres neuem Roman
Benjamin von Stuckrad-Barre verarbeitet in „Noch wach?“ seine Erlebnisse in den Me-Too-Affären um Harvey Weinstein und Julian Reichelt. Spannender als das ist sein verzweifeltes Ringen mit der Frage, ob er noch cool sein kann, wenn er einer von den Guten ist.
The importance of being earnest

Um nicht missverstanden zu werden: Es gibt keinen besonderen Grund, Benjamin von Stuckrad-Barre für „einen von den Guten“ zu halten wegen dieses Buchs. Vor allem nicht deshalb, weil er eine wichtige Rolle für die Me-Too-Bewegung gespielt hätte.
Ja, er bekommt etwas mit über ein Problem bei Deutschlands wichtigstem Medienkonzern, und dann solidarisiert er sich auf seine Art mit Betroffenen. Das ist gut. Aber 2023 ist zu spät, um ernsthaft Punkte zu machen mit einem Bekenntnis gegen sexualisierten Machtmissbrauch.
Der Autor ist hier nicht ganz auf der Höhe der Debatte, das merkt man vor allem an seiner Anekdote über die Schauspielerin Rose McGowan, die Steine gegen Harvey Weinstein ins Rollen brachte und von der er mitbekommen haben will, wie im Hotel in Los Angeles alle von ihr gemeint hätten, sie sei so „anstrengend“ geworden. Ach, anstrengend, ein Codewort für politisch, für wütend. Das sei ihm erst viel später klar geworden, aber immerhin.
Diese Geschichte schlägt er in seinem Buch breit, im großen Spiegel-Interview zum Buch auch noch mal, ein bisschen zu beeindruckt von seiner eigenen späten Erkenntnis, um wirklich Neues zum Thema beitragen zu können.
Aber zwischendrin handelt das Buch von einem inneren Konflikt des Autors, und der ist ein spannenderes Thema als die Me-Too-Zeitgeschichte an der Oberfläche. Der Konflikt findet statt zwischen zwei Elementen seiner Urteilskraft, zwei Aspekten von dem, was ihm als Autor den bissigen Humor gibt.
Vielleicht ist es der Konflikt zwischen einerseits seiner Fähigkeit zur scharfen Beobachtung und andererseits dem Mechanismus, den er sich zugelegt hat, um klarzukommen mit dem, was er beobachtet, und überhaupt mit sich selbst und seinem eigenen Leben. Er ist in der Lage, das Leiden zu sehen, aber er will darüberstehen, um es nicht zu sehr zu spüren, und um ein lässiger Künstler zu sein natürlich. Um die noch unreife Erkenntnis, dass es gesund und vielleicht sogar cool sein kann, das Mitfühlen zuzulassen und danach zu handeln, darum geht es für mich in diesem Buch.
Benjamin von Stuckrad-Barre ist ein Ästhet. Das ist ihm ganz wichtig. Länglich lässt er sich im Interview darüber aus, dass er keinen Schlüsselroman geschrieben habe (wenn auch sicherlich teils aus rechtlichen Gründen), oft betont er, sein Zugriff auf die Welt sei eine der Sprache. Aber nicht der politischen Sprache, der Argumentation, sondern eben des beiläufigen Kommentars, des ästhetischen Urteils, des Scherzes. Offene Briefe und Podiumsdiskussionen sind seine Sache nicht.
Was ihn total stört, ist politisch-debattierende Verkrampftheit. Die ist uncool, schmerzhaft peinlich, ganz schlimm. Im Buch walzt er aus, wie nervig es ist, recht haben zu wollen, dieser quengelnde Ton dabei. Zum Beispiel anhand seiner Freundschaft mit dem CEO von Deutschlands größtem Medienkonzern (wir müssen uns ihn wie Mathias Döpfner vorstellen), der ihm viel Geld bezahlt für wenig Arbeit und von dem sonst nicht ganz klar wird, was ihn mit Stuckrad-Barre eigentlich verbindet.
Liebe und Freundschaft muss man nicht erklären. Aber wenn Stuckrad-Barre schreibt, dass er seinen Freund einmal in einer hitzigen Diskussion gefragt habe, ob er die Privatisierung von Krankenhäusern wirklich voll okay finde (es war also schon richtig streitmäßig-brenzlig geworden), und dann hätten sie minutenlang wie verrückt gelacht, um die Stimmung aufzulockern, und dann entschieden, das Thema nie wieder anzusprechen, drängt sich der Eindruck auf, die Freundschaft werde vor allem durch das Schweigen über Gerechtigkeit und mit einer Menge Geld zusammengehalten.
Vielleicht würde er das überhaupt nicht bestreiten, ist ja auch eine persönliche Entscheidung. Aber der vor sich hergetragene Nihilismus bekommt Knackse, wenn er weniger künstlerisch wirkt als einfach nur bequem, mit Milliardärsfreundschaft inklusive. Und er wirkt vor allem dünn, wenn man merkt, dass es Stuckrad-Barre selbst bisweilen so unwohl damit wird, dass er ihn nicht konsequent durchziehen mag:
Im Spiegel-Interview bekennt er noch stolz: „Ich belästige meine Leser nicht mit einer klaren Haltung“. Im Buch erinnert er sich aber wiederum an die Szene, nachdem Kasia Lenhardt, die Ex-Freundin von Jérôme Boateng, nach einer Cybermobbing-Kampagne unter anderem durch die Bild-Zeitung sich das Leben genommen hatte. Ein Presse-Manager reißt sich hin zu den Worten: „Krass oder, Alter, was für ne Tragödie […] ganz ehrlich, jetzt hat sie es wirklich geschafft – jetzt hat sie ihn zerstört.“ Und Stuckrad-Barre kommentiert: „Ah ja. Sie ihn. Mit ihrem Selbstmord. Klar. Was für eine hinterhältige Bitch. TRÄNENTRAININGSLAGER anybody?“
Er macht den offensichtlichen Punkt, dass der Manager ein Arschloch ist. Das wäre eigentlich auch ausreichend deutlich geworden, dafür hätte man keinen Kommentar mehr anfügen müssen. Aber Stuckrad-Barre konnte es nicht lassen, weil seine intuitive Wut über das Leid, das Menschen mit ihrer Missachtung anrichten, so groß war. Schade, dass er diese Wut nicht wertschätzt, denn sie könnte helfen, gute Sachen zu tun. Stattdessen stellt er nur fest: „Ich stand da und war wütend, fühlte mich IM RECHT – und ich mag dieses Gefühl überhaupt nicht. Moralisch im Recht zu sein oder auch nur sich zu wähnen, macht so dumm, das ist immer das Problem.“
Zu denken, man hat genug nachgedacht, wenn man eine moralische Meinung hat, wäre in der Tat dumm, da hat Stuckrad-Barre recht. Sicherlich tun das viele Menschen und blenden aus, was um sie herum passiert. Genau das ist aber der Grund, warum Stuckrad-Barres Amoralismus hier an seine Grenzen kommt: Mit „dumm“ meint er durchweg eben nicht nur blind, sondern auch peinlich, nervig, anstrengend. Das verkrampfte, wenn Leute genauer hinschauen, wenn sie nachbohren und nicht lockerlassen. Wie schädlich es sein kann, Menschen als „anstrengend“ abzutun, wenn sie sich ernsthaft für eine gute Sache einsetzen, hat er laut eigener Aussage bei Rose McGowan gelernt. Und dass das nicht zu nervig und peinlich wirkt, dafür zu sorgen wäre als Stilist eigentlich genau seine Aufgabe.
Die Bodenhaftung, die Verbindungen zu anderen Menschen, dass es Bedeutung hat, wie wir handeln, all das bedroht Stuckrad-Barres Lebensstil als kaputter Glücksritter in Hollywood. Vielleicht macht es ihm Angst, ob er damit noch so leben kann wie zuvor, und vor allem, ob er noch so schreiben kann. Aber er erzählt auch vom Kampf gegen Suchtkrankheit, und es wirkt, als ob Sinn und Bedeutung im Leben dabei eher helfen würden als schaden. Sein Roman ist jedenfalls kein Zeugnis dafür, dass es cooler und besser ist, sich nicht für Ungerechtigkeit zu interessieren, eher, dass keine Haltung zu haben eigentlich traurig und zumindest ihm auch nicht wirklich konsequent möglich ist.
Und es gibt ja auch Stellen in seinem Buch, die zeigen: Man kann es doch machen. Man kann Dinge als „die letzte FDP-Scheiße“ bezeichnen, und wenn man das mit einer guten Beobachtung verbindet, wie Stuckrad-Barre, als er den Blick beschreibt, den Leute haben, wenn sie auf einem E-Roller losfahren, dann kann man anscheinend ganz entspannt in ästhetischen Kategorien urteilen und gleichzeitig politische Aussagen treffen, ohne sein Gesicht zu verlieren. Versuchen wir es doch alle mal.
Das Chateau Marmont Hotel in Los Angeles, California, wo der Autor gerne unpolitisch lebt