Eine neue Verfassung für Chile
Interview zur aktuellen politischen Lage
Mit Rodrigo Mayorga und Javier Pascual von der chilenischen NGO „Momento Constituyente“ habe ich über die Proteste von 2019 und die chilenische Verfassungsversammlung gesprochen, die in verschiedener Hinsicht für einen historischen Aufbruch steht.
22.7.21
von

Rodrigo Mayorga und Javier Pascual / Knut Penning
Im Herbst 2019 wurde Chile von einigen der schwersten Unruhen seit Ende der Militärdiktatur Augusto Pinochets (1973-1990) erschüttert. Eine Erhöhung der Fahrkartenpreise der U-Bahn von Chiles Hauptstadt Santiago um 30 Pesos entzündete Demonstrationen, die schnell das ganze Land erfassten und später „Estallido social“ genannt wurden. Man könnte den Begriff „Estallido social“ mit „soziale Unruhen“ oder „sozialer Ausbruch“ übersetzen, das im Wort „estallido“ enthaltene Verb „estallar“, auf deutsch „platzen, bersten, explodieren“, verdeutlicht die Dimension der Proteste. Die seit Jahren von der Studierendenbewegung vorgebrachte Kritik am politischen und wirtschaftlichen System und der Regierung von Präsident Sebastián Piñera, einem der reichsten Menschen des Landes, griff auf breite Schichten der Bevölkerung über.
Der Druck wurde so groß, dass die Regierung ein Referendum über die Ausarbeitung einer neuen Verfassung ankündigte, die die alte, noch unter der Diktatur eingesetzte, ablösen sollte. Die Option einer neuen Verfassung gewann dabei mit 78 Prozent der Stimmen, gleichzeitig stimmten 79 Prozent dafür, die neue Verfassung ausschließlich durch 155 eigens gewählte Mitglieder einer Verfassungsversammlung („Convención constitucional“) und nicht unter Mitarbeit der Parlamentsabgeordneten erarbeiten zu lassen.
Die Zusammensetzung der Verfassungsversammlung ist aus mehreren Gründen besonders: Die Versammlung besteht zu gleichen Teilen aus Frauen und Männern und enthält reservierte Sitze für die indigenen Völker Chiles („Pueblos originarios“). Darüber hinaus gewannen eine ungewöhnlich hohe Zahl unabhängiger, nicht parteigebundener Kandidatinnen einen Sitz.
Die neue Verfassung wird nach einem „blank page“-System erarbeitet, es werden also nicht bloß Veränderungen an der bisherigen Verfassung gemacht, sondern es wird ein völlig neuer Text entworfen, und was nicht beschlossen wird, kommt darin nicht vor. Die Versammlung trifft ihre Beschlüsse mit Zweidrittelmehrheit und muss nur einige inhaltliche Vorgaben beachten, so muss die neue Verfassung den Status Chiles als demokratische Republik und bereits von Chile unterzeichnete internationale Verträge respektieren. Die Versammlung hat am 4. Juli 2021 ihre Arbeit aufgenommen und hat maximal ein Jahr lang Zeit, die neue Verfassung zu entwerfen. Dann soll in einem weiteren Referendum von der Bevölkerung darüber abgestimmt werden, ob der neue Text angenommen wird.
Das Klima des politischen Umschwungs war auch auf anderen Ebenen zu spüren. So wurde im Rahmen der Kommunalwahlen im Frühjahr 2021 die 30-jährige kommunistische Kandidatin Irací Hassler zur Bürgermeisterin („alcalde“) der Kommune Santiago, dem zentralen Verwaltungsbezirk im Zentrum der Landeshauptstadt Chiles gewählt.
Mich hat interessiert, wie die historische Gelegenheit für politische Weichenstellungen in Form der Verfassungsversammlung zustande kam und welche Entscheidungen angesichts ihrer Besetzung und Verfahrensregeln wie der erforderlichen Zweidrittelmehrheit zu erwarten sind. Dazu habe ich mit Rodrigo Mayorga und Javier Pascual von der chilenischen NGO „Momento Constituyente“ Interviews geführt.
„Momento Constituyente“ ist eine überparteiliche politische Organisation, die in sozialen Netzwerken sowie an Schulen und in der Zivilgesellschaft Aufklärungsarbeit im Bereich staatsbürgerliche Bildung leistet und Informationen anbietet.
Rodrigo Mayorga ist Historiker und Doktor der Anthropologie und der Bildungswissenschaften. Er forscht und ist Universitätsdozent zu Fragen der staatsbürgerlichen Bildung und der Bildungsgeschichte und ist Gründer und Leiter der Organisation „Momento Constituyente“.
Javier Pascual ist Soziologe und Doktor der Bildungswissenschaften. Er forscht und ist Universitätsdozent zum Thema Bildungsforschung und ist leitender Koordinator der Organisation „Momento Constituyente“.
Das Interview steht auch in Textform auf deutsch sowie in Originalsprache (spanisch und englisch) zur Verfügung.